Der Serienmörder von Paris (German Edition)
denn er „erdreistete sich der Behauptung, die Taten im Dienste der Résistance begangen zu haben“.
Für seine unvorstellbaren Verbrechen müsse die Jury – so schloss Véron das Plädoyer – „zum Tode verurteilt werden“. Der Gerichtssaal explodierte förmlich in einem tosenden Beifall.
Inmitten des entstandenen Lärms stand Petiot von der Anklagebank auf, drohte den Rechtsanwälten mit erhobener Faust und ließ einen Schwall von Beleidigungen auf sie niederprasseln. Als der Applaus verebbte, entgegnete Véron, dass er der Hinrichtung persönlich beiwohnen werde.
Es war zwar schon nach 17 Uhr, doch Leser bat Dupin, das Abschlussplädoyer der Staatsanwaltschaft zu halten. Es war offensichtlich, dass er die bedeutende Rede an dem Tag nicht unterbrechen würde, und es stellte sich die Frage, ob eine solche Unterbrechung die Wirkung der Ausführungen geschmälert hätte. Dupin begann in einem altbackenen und blumigen Rhetorik-Stil, wobei er behauptete, „dass in den Aufzeichnungen des ‚Cour d’assises de la Seine‘, seit über 100 Jahren geführt, kein ähnlich monströser Fall auftaucht“. Petiot schaute währenddessen auf seinen Notizblock, zeichnete Karikaturen und gähnte.
„Ja, um so viele Leichen zu finden, so viel Blut zu sehen und so viele Morde zu beobachten, muss man sich ans andere Ufer des Rheins begeben – zu den schrecklichen Beinhäusern von Buchenwald oder Auschwitz, wo so viele unserer Mitbürger systematisch von den Nazis ermordet wurden.“ An diesem Tag stand allerdings kein deutscher Kriegsverbrecher vor Gericht, sondern ein Franzose, der weiterhin Skizzen machte und so tat, als könnte er sich nur unter größter Mühe wachhalten.
Dupin beschrieb Petiot als einen „außergewöhnlich intelligenten und erstklassigen Schauspieler, ohne jegliche Skrupel, zutiefst sadistisch und pervers“. Der Arzt versuche seine Verbrechen zu vertuschen, indem er sich „eine erfundene romantisierende Geschichte von der Résistance zurechtlegte“. Doch in wenigen Minuten, so Dupin, „werde ich Ihnen ohne jegliche Schwierigkeit zeigen, dass das alles nur ein Netz aus Lügen ist“. Petiot konnte sich eine kurze Showeinlage nicht verkneifen, als er scheinbar gelangweilt den Blick auf die Uhr richtete.
Der Staatsanwalt trug sein Plädoyer beinahe zwei Stunden lang vor, griff Petiot an und nannte ihn „einen Mörder, einen Dieb, einen Schwindler und einen Hochstapler“, bot also alle nur erdenklichen Beschreibungen auf – bis auf die eines Résistance-Kämpfers. „Das ist doch absurd“, zog Dupin sein Fazit. Dr. Petiot sei nicht mehr als ein einfacher Krimineller, dessen Handeln von der Gier und der Lust auf Grausamkeit dominiert würde. Er sei „ein Blaubart der Moderne“, also ein „zeitgenössischer Verbrecher“, der „tötete, um zu rauben“. Wie sich herausstellte, konnte Dupin seine Rede an dem Abend nicht abschließen. Leser schloss den Prozess um 19 Uhr. Der Antrag auf die Todesstrafe musste bis zum nächsten Tag warten.
PETIOT IST KEIN MÖRDER!
(René Floriot)
A m 4. April, dem 16. und letzten Tag, begann der Prozess um 13 Uhr. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Schauspieler, Sportler, Würdenträger und eine wahre Zuschauerflut drängten sich in den überfüllten Gerichtssaal, wie „Heringe in einer Blechbüchse“, wie es Pierre Scize von Le Figaro treffend beschrieb. Nie zuvor hatten so viele Zuschauer eine Verhandlung des Cour d’assises de la Seine besucht.
Petiot trug denselben grauen Anzug und die purpurrote Fliege wie am ersten Verhandlungstag und strahlte eine unvergleichliche Selbstsicherheit aus, als er den Blick über die Galerie schweifen ließ, auf der Suche nach Georgette, Gérard und Maurice, die keinen einzigen Tag des Prozesses verpasst hatten. Dupin bereitete sich auf die wichtigsten Passagen des Plädoyers vor, doch er wurde von einer Störung im Publikum abgelenkt. Eine oder sogar zwei Frauen waren in Ohnmacht gefallen. Schnell eilten ihnen einige Zuschauer zu Hilfe. Als die Wachen versuchten, sich ihren Weg durch das Gedränge zu ebnen, hinderte sie das Publikum daran, das nicht von den mit Müh und Not eroberten Plätzen weichen wollte. Président Leser machte den Eindruck, als wisse er nicht, wie dem Tumult Einhalt zu gebieten sei. Es sah so aus, als würde der Prozess – wie es der Korrespondent von Libé-Soir beschrieb – „in einem skandalösen Herumgealbere“ vorzeitig enden. Daraufhin vertagte Leser die Verhandlung auf 13.45
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