Der Serienmörder von Paris (German Edition)
durch Rentiergeweihe und das Fell eines Polarbären als Bettvorleger aus, wohingegen der „sonnige Bauernhof“ von einem weißen Bretterzaun umgrenzt wurde. Doch damit nicht genug – über dem Bett hatte der Architekt einen künstlichen Heuboden installieren lassen. Zwei Räume waren von der Decke bis zum Boden mit Spiegeln verziert. In den obersten Stockwerken befanden sich die Zimmer für die eher ausgefallenen Wünsche, darunter der beliebte Folterraum mit Peitschen, Ketten, Handschellen und Lederriemen.
Seit der Ankunft Petiots in Paris vor elf Jahren hatten sich viele Patienten aus dem Milieu bei ihm in Behandlung begeben. Auch Frauen aus weniger luxuriösen Etablissements zog er an, wie Jeannette Gaul, die außerhalb des Erfassungssystems arbeitete. Antonie Marguerite Bella, ein 36-jähriges ehemaliges Zimmermädchen wurde heroinsüchtig und musste das Geld für ihre Sucht als Bordsteinschwalbe ohne Lizenz verdienen. Sie suchte Petiots Praxis ebenfalls häufig auf. Ohne Schwierigkeiten bezog sie von dem Arzt Drogen, wie Bella Inspektor Jean Prigent bei einer Befragung im Gefängnis erzählte. Eine Freundin, die auch im Milieu arbeitete und ihn aus „den gleichen Gründen“ immer aufsuchte, wurde laut ihrer Aussage gleichfalls „zufriedengestellt“.
Die Ermittler konnten sich nicht über zu wenige Zeugen beklagen, die bereitwillig Angaben über Petiots Klientel machten. Sie bestand größtenteils aus Frauen, von denen viele süchtig waren, wobei Morphium, Heroin und Kokain dominierten. Wie eine Patientin später sagte, kannten „fast alle Süchtigen des Montmartre“ Dr. Petiot. Falls die Frauen ihn nicht bezahlten konnten, war Petiot niemals verlegen, auf ein kleines Geschäft oder das Angebot von gewissen Diensten auszuweichen. Der Arzt meinte, durch die Frauen wichtige Lektionen gelernt zu haben, die mit Geld gar nicht aufzuwiegen waren, darunter nicht zuletzt die Perfektionierung der Fähigkeit, anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen. „Durch sie lernt man zu dominieren“, sagte Petiot und bezeichnete Prostituierte als „Harem, der einen Mann zum großen Eroberer macht.“
Eine nicht näher genannte Prostituierte und Patientin Petiots erzählte einem Reporter von ihren Erfahrungen mit dem Arzt: „Wir alle hatten ein bisschen Angst vor ihm. Er fragte uns ständig nach speziellen Praktiken, die wir nicht mochten oder manchmal auch gar nicht kannten. Dann erklärte er sie uns und lachte dabei so komisch.“ Bei Untersuchungen agierte er oft brutal und mochte es, zu beißen oder „mit aller Kraft in die Brustwarzen zu kneifen“. Einige Prostituierte wie Marguerite la Poupée oder Annette „Chouchou“ frequentierten die Praxis wegen benötigter Salben. Petiot hatte einen hervorragenden Ruf bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten, speziell Gonorrhö und Syphilis, wobei die Behandlung von Letzterer damals eine besonders schwierige und lange Prozedur verlangte. Alles in allem hatte Petiot genügend Möglichkeiten, um sich ein Bild über die Pariser Unterwelt zu verschaffen und dort einen bestimmten Einfluss geltend zu machen.
Hatte der Arzt Paulette Grippay auf diese Weise kennengelernt? Das Bordell, in dem sie arbeitete, lag lediglich eine Straße entfernt, in der Rue Godot de Mauroy. Hatte ihr Petiot Drogen verkauft, sie wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt, oder gab es eine andere, bislang nicht bekannte Verbindung? Die Polizei sollte schon bald eine Antwort auf die Frage finden, die Massu mehr als verblüffte.
„All die menschlichen Sorgen, all die Schwierigkeiten und all die Ängste enden immer gleich“, reflektierte René Piédelièvre, der gerichtsmedizinische Experte, der am Petiot-Fall arbeitete, auf der Basis seiner 45-jährigen Erfahrung am Autopsie-Tisch. Es war eine generelle Aussage zum Tod. Er bezog sich auf einen leblosen Körper, der „zwischen all dem Moder der Erde lag, der zerfiel und zunehmend mikrobiologisch verrottete, inmitten der fressenden Insekten und ihren Larven, den Arbeitern des Todes“.
Piédelièvre hatte seine erste Tatortbegehung in der Rue Le Sueur nicht vergessen. Als er über den Innenhof ging, rutschte er beinahe auf einem vermeintlichen Kiesel aus. Er bückte sich, um den Stein näher zu begutachten, und entdeckte „ein Wirbelfragment, an dem noch ein durchsichtiges Stück der Bänder hing“. Er war „in einen Staubhaufen von Knochen“ getreten. Nachdem man die Überreste ins gerichtsmedizinische Institut geliefert hatte,
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