Der Serienmörder von Paris (German Edition)
lieben und zu kämpfen. Doch die Regeln gingen verloren und gleichzeitig die Herausforderung des Spiels.“
ES WAR DER TAG, AN DEM DER KRIEG HÄTTE ENDEN MÜSSEN.
(Irwin Shaw)
I m Gegensatz zur zunehmenden internationalen Berichterstattung zog der Fall Petiot in den französischen Zeitungen immer weniger Aufmerksamkeit auf sich. Das ließ sich nicht nur auf die Landung der Alliierten in der Normandie zurückführen, sondern war auch eine Reaktion auf die Polizeiarbeit, die im Sande verlief. Im Mai 1944 schien es unwahrscheinlich, dass Petiot lebend gefunden würde. Viele Polizeibeamte befürchteten, dass er schon längst tot sei. Doch es gab noch einen weiteren Grund für die sinkende Aufmerksamkeit der Medien.
Obwohl keine eindeutigen Beweise vorlagen und die Akten schon lange „gesäubert“ wurden, bestand Grund zur Annahme, dass die deutschen Besatzer sich in die Ermittlung einschalteten und sie stoppen wollten. Georges Suard, der Chauffeur von Kommissar Béranger von der Sûreté National [der Polizei für nationale Sicherheit, A. T.] hörte Ende April von Behinderungsversuchen der Deutschen. Der oberste Leiter der französischen Polizei selbst war die Quelle der Informationen Bérangers. Der mit dem Fall beauftragte Kommissar Louis Poirier befragte Suard am 9. Oktober 1945, woraufhin dieser seine Kenntnisse preisgab. Als er damals seinen Chef, einen Günstling des Vichy-Botschafters Fernand de Brinon, näher befragt hatte, hatte der ihm erklärt, dass die französische Polizei Petiot niemals finden würde, solange die Deutschen Paris besetzt hielten.
Er fügte hinzu, dass Béranger „mir von einem Treffen berichtete, bei dem ein hochrangiger Deutscher de Brinon den Befehl gab, den Fall aus dem Blickfeld der französischen Polizei zu ziehen“. Die Identität des Deutschen kam nie ans Tageslicht. Weder Béranger noch de Brinon gaben jemals zu, sich in die Petiot-Ermittlung eingeschaltet zu haben. Nach der Befreiung mussten sich die beiden Männer vor Gericht wegen Kollaboration mit dem Feind verantworten. Somit überrascht es auch nicht, dass sie jede Handlung, die der Festnahme des verdächtigten Serienmörders entgegenstand, mit Vehemenz abstritten.
Suards erste Information über eine deutsche Intervention im Fall Petiot fiel zeitlich mit einer verdächtigen Zurückhaltung der Medien zusammen. Kurz zuvor hatte die Presse noch über seinen Aufenthaltsort spekuliert, was mit einer bemerkenswerten Häufung von Zeugenberichten endete, in denen der Arzt teilweise sogar für tot erklärt wurde. Am 21. April beteuerte hingegen die transatlantische Nachrichtenagentur der Deutschen, dass Petiot nach „einem verzweifelten Fluchtversuch über die französische Grenze nach Spanien“ von der dortigen Polizei verhaftet und ihren Kollegen in Bordeaux ausgeliefert worden sei.
Interessanterweise widersprach Massu der These, die Deutschen hätten ihm bei der Ermittlung Steine in den Weg gelegt, und behauptete, dass die französische Polizei zwar tägliche Berichte habe verfassen müssen, darauf aber nie eine Reaktion erhalten habe. Allerdings wurde Massu niemals in Entscheidungen eingeweiht, die man in den oberen Führungszirkeln der deutschen Besatzer fällte. Staatssekretär Fernand de Brinon, Vichys Botschafter, befolgte die Befehle der Besatzer und leitete sie direkt an den Polizeipräfekten Amédée Bussière weiter, dem Massu unterstand.
Somit überraschte es nicht, dass der Kommissar eine deutsche Einmischung vorsichtig verneinte, jedoch auf französische Störversuche hinwies.
Doch warum sollten die Besatzer ein Interesse an der Blockade der Ermittlung haben? Darauf gab es noch immer keine befriedigende Antwort. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Behinderungen den Fall Petiot noch verzwickter und komplizierter machten. Jeder weitere erfolgreiche Versuch, das Mysterium zu enträtseln, würde sich tatsächlich – wie es der Chauffeur gehört hatte – erst nach der Befreiung realisieren lassen.
Ende Juli 1944 gelang es den Alliierten, die Verteidigungslinien der Nazis in den ländlichen Gebieten im nordwestlichen Frankreich zu durchbrechen. Caen war zwar nicht wie geplant nach einem, sondern erst nach vierzehn Tagen gefallen, wodurch die amerikanischen und britischen Soldaten keine Stadt, sondern einen Trümmerhaufen übernahmen. Während sich Montgomerys 21. Armee langsam und methodisch von Caen aus ostwärts vorarbeitete, näherte sich Pattons 3. Armee dem Abschnitt der Seine, der südwestlich der
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