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Der siebente Sohn

Der siebente Sohn

Titel: Der siebente Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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bezweifelte, daß es etwas Böses beabsichtigt hatte. Was ihn jedoch an dem Kind anzog, war keine Eigenschaft des Jungen selbst, vielmehr etwas an den Leuten in seiner Nähe. Sie schienen ständig auf ihn zu achten. Nicht als ob sie ihn ständig angesehen hätten – dann hätten sie den ganzen Tag nichts anderes zu tun gehabt, so viel rannte er umher, sondern als wären sie sich seiner stets bewußt, so wie der Koch am Priesterkolleg sich stets der Anwesenheit seines Hundes bewußt gewesen war, ohne jemals zu ihm zu sprechen oder in seiner Arbeit auch nur innezuhalten.
    Und es war auch nicht nur die Familie des Jungen, die so sorgfältig auf ihn achtete. Alle verhielten sich so – die Deutschen, die Skandinavier, die Engländer, die Neuankömmlinge und die Alteingesessenen gleichermaßen. Als wenn der Schutz und die Pflege dieses Jungen ein Gemeinschaftsvorhaben gewesen wäre wie der Bann einer Kirche.
    »Langsam, langsam, langsam!« rief Wastenot, der neben dem östlichen Stützpfahl saß, um den schweren Balken an Ort und Stelle zu lenken. Genauso mußte es sein, damit die Balken sich gegenseitig stützten und ein kräftiges Dach ergaben.
    »Zu weit in deine Richtung«, rief Measure. Er stand auf dem Gerüst über dem Kreuzbalken, auf dem der kurze Pfahl ruhte, der die beiden Dachbalken an der Stelle stützen sollte, wo ihre abgerundeten Enden in der Mitte aufeinandertrafen. Dies war die wichtigste Stelle des ganzen Dachs; sie mußten die Enden der beiden schweren Balken auf das obere Ende eines Pfahls legen, der kaum zwei Handspannen breit war. Deshalb stand Measure auch dort, denn er hatte seinem Namen mittlerweile alle Ehre gemacht und war scharfäugig und vorsichtig.
    »Richtig!« rief Measure. »Noch mehr!«
    »Wieder in meine Richtung!« rief Wastenot.
    »Langsam!« rief Measure.
    »Legt ab!« rief Wastenot.
    Dann rief auch Measure sein »Legt ab!«, und die Männer am Boden lösten die gespannten Seile. Als die Leinen erschlafften, stießen sie ein Jubeln hervor, denn nun zog sich der Dachbalken durch die halbe Länge der Kirche. Es war zwar keine Kathedrale, aber das größte Gebäude, an das je ein Mensch im Umkreis von hundert Meilen zu denken gewagt hatte. Schon die bloße Tatsache seiner Errichtung hatte bewirkt, daß die Siedler gekommen waren, um zu bleiben; und weder die Franzosen noch die Spanier, weder die Cavaliers noch die Yankees, ja nicht einmal die wilden Roten mit ihren Feuerpfeilen – kein Mensch würde diese Leute dazu bewegen, diesen Ort jemals wieder zu verlassen.
    Und so begab sich Reverend Thrower ins Innere, zusammen mit all den anderen, um zum ersten Mal den Himmel von einem Dachbalken eingenommen zu sehen, der nicht weniger als vierzig Fuß lang war – und das war erst die Hälfte dessen, was einmal sein würde. Meine Kirche, dachte Thrower, ist schon jetzt viel prachtvoller als das meiste, was ich in Philadelphia selbst zu Gesicht bekommen habe.
    Oben auf dem schwachen Gerüst war Measure damit beschäftigt, einen Holzpflock durch die Kerbe am Ende des Dachbalkens hinein in das Loch am oberen Teil des Stützpfahl zu treiben. Wastenot leistete die gleiche Arbeit an seinem Ende. Diese Pflöcke würden den Balken an Ort und Stelle halten, bis die Querstreben ausgelegt werden konnten. War das erledigt, so würde der Dachbalken so fest sein, daß sie den Kreuzbalken fast entfernen könnten, würde er nicht dort für den Leuchter benötigt, der die Kirche bei Nacht erhellen sollte. Bei Nacht, damit das getönte Glas die Dunkelheit draußen erhellen konnte. Von einem solch wunderbaren Ort träumte Reverend Thrower. Sollten die schlichten Gemüter dieser Leute doch vor Ehrfurcht verstummen, wenn sie diesen Ort erblickten, um über die Herrlichkeit Gottes nachzudenken.
    Plötzlich wurde Thrower aus seinen Gedanken gerissen. Measure stieß einen Angstschrei aus, und alle mußten entsetzt mitansehen, daß der mittlere Pfeiler unter den Hieben von Measures Schlegel auf den Holzpflock gesplittert war und zu zittern begonnen hatte. Das riß den Balken am anderen Ende aus Wastenots Händen und zerschmetterte das Gerüst wie Zunder. Der Dachbalken schien einen Augenblick in der Luft schwebenzubleiben, völlig waagerecht, dann donnerte er herab, als hätte der Herr selbst ihn zu Boden geschleudert.
    Reverend Thrower ahnte, daß jemand unmittelbar unter diesem Balken stehen würde, genau dort, wo er zu Boden gehen würde. Er wußte es, weil er sich des Jungen bewußt war, den sein eigener Schrei

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