Der siebente Sohn
hätte ich lieber den Rest meines Lebens im Freien gepredigt.«
Sie musterte ihn eindringlich und erkannte, daß er es von ganzem Herzen ernst meinte. »Ist nicht Eure Schuld«, sagte sie. »Er war schon immer ein tapsiger Junge. Er scheint Dinge zu überleben, an denen jedes gewöhnliche Kind sterben würde.«
»Ich würde… ich würde gerne begreifen, was dort drinnen geschehen ist.«
»Der Dachbalken hat gewackelt, natürlich«, sagte sie. »So etwas passiert schon einmal.«
»Ich meine, wie er ihn verfehlen konnte. Der Balken ist auseinandergebrochen, noch bevor er seinen Kopf berührt hat. Ich möchte gerne seinen Kopf befühlen, wenn ich darf…«
»Nicht einmal eine Schramme daran«, erwiderte sie.
»Ich weiß. Ich möchte fühlen, ob ich feststellen kann…«
Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Rutengehen nach Gehirnen«, zugleich nahm sie aber auch die Hände fort, damit er den Kopf des Kindes befühlen konnte: ganz langsam und vorsichtig, um die Landkarte des jungen Schädels verstehen zu lernen und die Furchen und die Ausbuchtungen zu lesen. Dazu mußte er kein Buch konsultieren, die Bücher waren ohnehin Unfug, sie brachten ausnahmlos nur idiotische Verallgemeinerungen wie: »Der Rote hat stets einen Höcker unmittelbar über dem Ohr, was Wildheit und Kannibalismus anzeigt«, obwohl die Roten natürlich ebenso viele Kopfformen aufwiesen wie die Weißen. Nein, Thrower vertraute diesen Büchern nicht – doch hatte er tatsächlich einiges über Leute mit besonderen Fähigkeiten in Erfahrung gebracht, und Höcker hatten sie alle gemeinsam. Er hatte gewisse Erfahrungswerte herausbekommen, gleichsam eine Karte der menschlichen Schädelformen entworfen; wie er seine Hände über Als Kopf fahren ließ, kannte er sich also aus.
Doch nichts Bemerkenswertes entdeckte er. Kein Merkmal, das sich über die anderen erhob. So durchschnittlich war Alvins Schädel, daß er ein Lehrbuchbeispiel für eine normale Kopfform abgegeben hätte, wären solche lesenswerten Lehrbücher überhaupt vorhanden gewesen.
Er nahm die Finger wieder von dem Kopf, und der Junge, der unter seinen Händen aufgehört hatte zu weinen, drehte sich auf dem Schoß seiner Mutter zu ihm um. »Reverend Thrower«, sagte er, »Eure Hände sind so kalt, daß ich fast erfriere.«
Dann sprang er vom Schoß seiner Mutter und rannte davon, dem deutschen Jungen etwas zurufend, mit dem er vorher so heftig gerangelt hatte.
Faith lachte reumütig. »Seht Ihr, wie schnell die Kinder vergessen können?«
»Und Ihr auch«, erwiderte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht«, sagte sie. »Ich vergesse nicht das geringste.«
»Ihr lächelt bereits wieder.«
»Ich lebe weiter, Reverend Thrower. Ich lebe einfach weiter. Das ist nicht dasselbe, wie zu vergessen.«
Er nickte.
»Also… sagt mir, was Ihr entdeckt habt«, sagte sie.
»Entdeckt?«
»Beim Befühlen seiner Höcker. Beim Gehirnruten. Hat er eins?«
»Normal. Absolut normal. An seinem Schädel ist nichts Auffälliges.«
Sie grunzte. »Nichts ungewöhnlich?«
»So ist es.«
»Na, wenn Ihr mich fragt, dann ist das aber wirklich ungewöhnlich, sofern jemand nur klug genug ist, um es zu bemerken.«
Sie nahm den Schemel auf und trug ihn davon, im Gehen nach Al und Cally rufend.
Nach einem kurzen Augenblick begriff Reverend Thrower, daß sie recht hatte. Niemand war so vollkommen durchschnittlich. Jeder Mann hatte irgendeinen Zug, der stärker ausgeprägt war als die anderen. Es war nicht normal, daß Al so gut ausgewogen war. Jede nur erdenkliche Fähigkeit zu besitzen, die sich am Schädel ablesen ließ, und dies in genau gleichmäßigen Proportionen. Das Kind war alles andere als durchschnittlich, es war außergewöhnlich, obgleich Thrower keine Ahnung hatte, was es für sein Leben bedeuten würde. Ein Hansdampf in allen Gassen, der nichts richtig beherrschte? Oder ein Meister aller Dinge?
Aberglaube hin, Aberglaube her, Thrower geriet ins Grübeln. Der siebente Sohn eines siebenten Sohnes, eine erstaunliche Kopfform und das Wunder – ein anderes Wort fand er dafür nicht – des Dachbalkens. Nach dem Gesetz der Natur hätte jedes gewöhnliche Kind heute den Tod gefunden. Doch irgend jemand oder irgend etwas beschützte dieses Kind, und das Gesetz der Natur hatte nachgeben müssen.
Als das Gerede verstummt war, machten die Männer sich wieder an ihre Arbeit. Der ursprüngliche Balken war natürlich nutzlos geworden, und so trugen sie die beiden Teile hinaus. Nach allem, was
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