Der siebte Schrein
ihm. Aber der Zwischenfall war vorbei. Der Schamane blieb, wo er war, vollkommen reglos und über seine Niederlage bitterlich schluchzend.
»Danke«, sagte Valentine zu Deliamber und Vathiimeraak. Und dann, mit einer wegwerfenden Geste: »Schafft ihn weg.«
Lisamon Hultin warf Torkkinuuminaad über ihre Schulter wie einen Sack Calimbots und ging mit ihm die Straße hinab.
Ein langes, fassungsloses Schweigen folgte. Magadone Sambisa brach es schließlich. Mit gedämpfter Stimme fragte sie: »Euer Majestät, alles in Ordnung?«
Er antwortete nur mit einem Nicken.
»Und die Ausgrabung«, fuhr sie nach einem weiteren Augenblick nervös fort. »Was wird damit? Werden wir damit fortfahren?«
»Warum nicht?« entgegnete Valentine. »Es gibt immer noch viel zu tun.« Er entfernte sich einen oder zwei Schritte von ihr. Er hielt sich die Hände an die Brust, den Hals. Er konnte den Druck dieser erbarmungslosen unsichtbaren Hände fast immer noch spüren.
Magadone Sambisa war aber noch nicht fertig mit ihm.
»Und die hier?« fragte sie und zeigte auf die Meeresdrachenzähne. Sie sprach jetzt aggressiver, als wäre sie wieder Herrin der Lage, und erlangte ihre Lebhaftigkeit und Fassung zurück. »Wenn ich sie jetzt haben könnte, Majestät . . .«
»Ja, nehmt sie«, sagte Valentine zornig. »Aber bringt sie in den Schrein zurück. Und dann versiegelt Ihr das Loch wieder, das Ihr heute gemacht habt.«
Die Archäologin sah ihn an, als hätte er sich selbst in einen Piurivar verwandelt. Mit einem Unterton unverhohlener Schroffheit in der Stimme sagte sie: »Wie bitte, Euer Majestät? Wie bitte? Dr. Huukaminaan ist für diese Zähne gestorben! Diesen Schrein zu finden, das war die Krönung seiner Arbeit. Wenn wir ihn jetzt wieder versiegeln . . .«
»Dr. Huukaminaan war der vollkommene Wissenschaftler«, sagte Valentine, der sich keine Mühe mehr gab, seine große Müdigkeit zu verbergen. »Seine Liebe zur Wahrheit hat ihn das Leben gekostet. Eure eigene Wahrheitsliebe ist, glaube ich, nicht ganz so vollkommen, und darum werdet Ihr mir in diesem Punkt gehorchen.«
»Ich flehe Euch an, Majestät . . .«
»Nein. Genug gefleht. Ich maße mir nicht an, selbst ein Wissenschaftler zu sein, aber ich kenne meine Verantwortung. Manche Dinge sollten begraben bleiben. Diese Zähne sind nichts, das wir handhaben und studieren und in einem Museum ausstellen sollten. Der Schrein ist ein heiliger Ort für die Piurivar, auch wenn sie seine Heiligkeit nicht verstehen. Es ist eine traurige Angelegenheit für uns alle, daß er jemals freigelegt wurde. Bringt diese Zähne zurück. Versiegelt den Schrein, und haltet Euch von ihm fern. Haben wir uns verstanden?«
Sie sah ihn benommen an und nickte.
»Gut. Gut.«
Inzwischen hatte sich völlige Dunkelheit über die Wüste gesenkt. Valentine konnte die Myriaden Geister von Velalisier ringsum schweben spüren. Es schien, als würden Knochenfinger an seiner Tunika zupfen, als würden unheimlich flüsternde Stimmen ihm gefährliche Zaubersprüche ins Ohr raunen.
Er sehnte sich von ganzem Herzen danach, diese Ruinen zu verlassen. Er hatte für den Rest seines Lebens genug davon.
Zu Tunigorn sagte er: »Kommt, alter Freund, gebt die Befehle, bereitet alles für unseren sofortigen Aufbruch vor.«
»Jetzt, Valentine? Zu dieser späten Stunde?«
»Jetzt, Tunigorn. Jetzt.« Er lächelte. »Wißt Ihr, nach diesem Ort kommt mir das Labyrinth beinahe anheimelnd vor! Ich verspüre den großen Wunsch, in seine tröstliche Vertrautheit zurückzukehren. Kommt: Macht alles für unseren Aufbruch bereit. Wir sind lange genug hier gewesen.«
Erdsee
URSULA K. LE GUIN
D ER M AGIER DER E RDSEE (1979)
D IE G RÄBER VON A TUAN (1979)
D AS FERNE U FER (1979)
T EHANU (1992)
Die Inselwelt Erdsee wird von Menschen und Drachen bewohnt. Die Drachen sind verschrobene und gefährliche Wesen, deren angeborenes Idiom die Sprache des Schöpfens ist. Einige Ereignisse und Geschichten (in Tehanu) deuten darauf hin, daß es eine Zeit gab, als Drachen und Menschen eins waren, aber nun sind sie seit langem getrennt und verfeindet. Unter Menschen ist Magie eine Gabe, mit der manche schon geboren werden, die aber auch wie eine Kunst oder Wissenschaft gelernt werden muß. Von entscheidender Bedeutung für die Ausübung der Magie ist es, zumindest ein paar Worte der Sprache des Schöpfens zu beherrschen, in der den Dingen ihre wahren Namen gegeben werden. Wenn sie den wahren Namen lernen, bekommen die Hexe oder der
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