Der siebte Schrein
übrig waren, dem Hausherrn, daß es Zeit für den Namenstag seiner Tochter wurde. Sie fragten, ob sie den Zauberer aus Westteich kommen lassen sollten oder ob die hiesige Dorfhexe genügte. Der Herr von Iria bekam einen Tobsuchtsanfall. »Eine Dorfhexe? Ein Hexenweib soll Irians Tochter ihren wahren Namen geben? Oder ein kriecherischer, verräterischer, zaubernder Lakai der diebischen Emporkömmlinge, die meinem Großvater Westteich gestohlen haben? Wenn dieser Haderlump es wagt, einen Fuß auf mein Land zu setzen, lasse ich die Hunde seine Leber fressen, sagt ihm das, wenn ihr wollt!« Und so weiter. Die alte Daisy ging in ihre Küche zurück, der alte Coney zu seinen Reben, und die dreizehnjährige Drachenkind rannte aus dem Haus und bergab ins Dorf und schleuderte den Hunden, die wegen des Gebrülls ihres Vaters ganz durchgedreht vor Aufregung waren und hinter ihr her rannten, seine Flüche entgegen. »Kehr um, du hartherzige Schlampe!« schrie sie. »Nach Hause, du kriecherischer Verräter!« Und die Hunde verstummten und schlichen mit eingeklemmten Schwänzen nach Hause zurück.
Drachenkind fand die Dorfhexe, wie sie gerade dabei war, Maden aus einem entzündeten Riß am Rumpf eines Schafes zu klauben. Der Rufname der Hexe war Rose, wie bei vielen Frauen von Weg und dem Hardischen Archipel. Leute mit geheimen Namen, in denen ihre Macht funkelt wie Licht in einem Diamanten, mögen es, wenn ihre öffentlichen Namen gewöhnlich und weit verbreitet sind wie die Namen anderer Menschen.
Rose murmelte mechanisch einen Zauberspruch, erledigte aber den größten Teil der Arbeit mit den Händen und einem kleinen scharfen Messer. Das Mutterschaf ertrug das Messer geduldig, seine milchigen, bernsteinfarbenen Augen blickten in die Stille; nur ab und zu stapfte es mit dem schmalen linken Vorderhuf auf und seufzte. Drachenkind sah Rose aufmerksam bei der Arbeit zu. Rose zog eine Made heraus, ließ sie fallen, spuckte darauf und suchte weiter. Das Mädchen lehnte sich gegen das Mutterschaf, und das Mutterschaf lehnte sich gegen das Mädchen, um Trost zu geben und zu nehmen. Rose zog die letzte Made heraus, ließ sie fallen, spuckte darauf und sagte: »Gib mir bitte den Eimer dort.« Sie wusch die Schwäre mit Salzwasser aus. Das Mutterschaf seufzte tief und lief plötzlich los, nach Hause. Es hatte genug Medizin gehabt. »Bucky!« rief Rose. Ein pummeliger Junge, der unter einem Busch geschlafen hatte, kam hervor und trottete hinter dem Mutterschaf her, dessen Aufseher er nominell sein sollte, obwohl das Tier älter, größer, besser im Futter und wahrscheinlich auch klüger war als er.
»Sie haben gesagt, du sollst mir meinen Namen geben«, sagte Drachenkind. »Vater hat einen Wutanfall bekommen. Soviel dazu.«
Die Hexe sagte nichts. Sie wußte, das Mädchen hatte recht. Wenn der Herr von Iria einmal gesagt hatte, daß er etwas duldete oder nicht duldete, ließ er sich nicht mehr umstimmen und brüstete sich mit seiner Unnachgiebigkeit, da nur schwache Männer etwas zurücknahmen, was sie gesagt hatten.
»Warum kann ich mir meinen wahren Namen nicht selbst geben?« fragte Drachenkind, während Rose ihre Hände und das Messer mit Salzwasser wusch.
»Geht nicht.«
»Warum nicht? Warum muß es eine Hexe oder ein Zauberer sein? Was macht ihr dabei?«
»Nun«, sagte Rose und schüttete das Salzwasser auf den kahlen Boden des kleinen Hofs vor ihrem Haus, das wie alle Hexenhäuser ein Stück vom Dorf entfernt stand. »Nun«, sagte sie, richtete sich auf und sah sich um, wie auf der Suche nach einer Antwort, einem Mutterschaf oder einem Handtuch. »Du mußt etwas über die Macht wissen, weißt du«, sagte sie schließlich und sah Drachenkind mit einem Auge an. Ihr anderes Auge schaute ein klein wenig zur Seite. Manchmal glaubte Drachenkind, daß Rose mit dem linken Auge schielte, und manchmal schien es das rechte zu sein, aber immer sah ein Auge einen gerade an, während das andere etwas außer Sichtweite zu beobachten schien, hinter einer Biegung, anderswo.
»Welche Macht?«
»Die Macht«, sagte Rose. So unvermittelt, wie das Mutterschaf fortgelaufen war, ging sie ins Haus. Drachenkind folgte ihr, aber nur bis zur Tür. Niemand betrat das Haus einer Hexe ungebeten.
»Du hast gesagt, daß ich sie habe«, sagte das Mädchen ins stinkende Halbdunkel des einzigen Zimmers der Hütte hinein.
»Ich habe gesagt, daß du eine Kraft in dir hast, eine ziemlich große«, sagte die Hexe aus der Dunkelheit. »Und das weißt du auch.
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