Der siebte Schrein
Was du damit anfangen sollst, das weiß ich nicht, und du auch nicht. Das gilt es herauszufinden. Aber die Macht, sich selbst einen Namen zu geben, gibt es nicht.«
»Warum nicht? Was ist persönlicher als der eigene wahre Name?«
Ein langes Schweigen.
Die Hexe kam mit einer Spindel aus Speckstein und einem Knäuel fettiger Wolle heraus. Sie setzte sich auf die Bank neben der Tür und ließ die Spindel kreisen. Als sie antwortete, hatte sie schon einen Meter graubraunes Garn gesponnen.
»Mein Name bin ich. Stimmt. Aber was ist ein Name? Wie mich ein anderer nennt. Wenn es keinen anderen gäbe, nur mich, wozu brauchte ich dann einen Namen?«
»Aber«, sagte Drachenkind und verstummte, weil das Argument sie aus dem Gleichgewicht brachte. Nach einer Weile sagte sie: »Also muß ein Name ein Geschenk sein?«
Rose nickte.
»Gib mir meinen Namen, Rose«, sagte das Mädchen.
»Dein Vater sagt nein.«
»Ich sage ja.«
»Er ist der Herr hier.«
»Er kann mich arm und dumm und wertlos halten, aber er kann mich nicht namenlos halten!«
Die Hexe seufzte, genau wie das Mutterschaf, unbehaglich und beklommen.
»Heute abend«, sagte Drachenkind. »Bei unserem Brunnen, unter dem Iriaberg. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« Ihre Stimme klang halb lockend, halb wütend.
»Du solltest einen richtigen Namenstag haben, ein Fest mit Tanz, wie jedes junge Mädchen«, sagte die Hexe. »Bei Tagesanbruch sollte der Name vergeben werden. Und danach sollte ein Fest mit Musik und so weiter stattfinden. Kein nächtliches Herumschleichen, damit es niemand weiß . . .«
»Ich werde es wissen. Woher weißt du, welcher Name es ist, Rose? Verrät ihn dir das Wasser?«
Die Hexe schüttelte kurz das stahlgraue Haupt. »Ich kann es dir nicht sagen.« Ihr »kann nicht« bedeutete nicht »werde nicht«. Drachenkind wartete. »Es ist die Macht, wie ich schon sagte. Das kommt einfach so.« Rose hörte auf zu spindein und sah mit einem Auge zu einer Wolke im Westen; das andere schaute ein wenig nordwärts in den Himmel. »Ihr seid zusammen im Wasser, du und das Kind. Du nimmst den Kindernamen weg. Die Leute benutzen diesen Namen vielleicht weiter als Rufnamen, aber es ist nicht mehr ihr Name und war es auch nie. Also ist sie jetzt kein Kind mehr und hat keinen Namen. Und dann wartest du. Du öffnest sozusagen den Geist. Als würdest du dem Wind die Türen eines Hauses öffnen. Und dann kommt er. Deine Zunge spricht ihn aus, den Namen. Dein Atem macht ihn. Du gibst ihn dem Kind, den Atem, den Namen. Du kannst ihn dir nicht ausdenken. Du läßt ihn zu dir kommen. Er muß durch dich zu ihr kommen, der er gehört. Das ist die Macht, so funktioniert sie. Es ist immer so. Es ist nichts, was du tust. Du mußt wissen, wie du es tun lassen kannst. Darin besteht die Meisterschaft.«
»Magier können mehr als das tun«, sagte das Mädchen.
»Niemand kann mehr als das tun«, sagte Rose.
Drachenkind ließ den Kopf auf dem Hals kreisen, überdehnte ihn, bis der Halswirbel knackte, streckte rastlos die langen Arme und Beine aus. »Wirst du es tun?« fragte sie.
Rose nickte einmal.
Sie trafen sich im Dunkel der Nacht, lange nach Sonnenuntergang, lange vor Sonnenaufgang, auf dem Weg unter dem Iriaberg. Rose erzeugte ein schwaches Leuchten von Werlicht, damit sie den Weg durch den marschigen Boden um die Quelle herum finden konnten, ohne in ein Sinkloch zwischen den Schilfgräsern zu fallen. In der kalten Dunkelheit, unter wenigen Sternen und der schwarzen Kurve des Hügels, zogen sie sich aus und wateten in das flache Wasser, wo ihre Füße tief in den samtigen Schlamm einsanken. Die Hexe berührte das Mädchen an der Hand und sprach die Worte: »Ich nehme deinen Namen, Kind. Du bist kein Kind mehr. Du hast keinen Namen.«
Es war vollkommen still.
Flüsternd sagte die Hexe: »Frau, nimm deinen Namen. Du bist Irian.«
Sie verweilten noch einen Moment in der Stille; dann wehte der Nachtwind über ihre Schultern, sie wateten erschauernd hinaus, trockneten sich ab, so gut sie konnten, stolperten barfuß und kläglich durch das scharfkantige Schilfgras und das Wurzelgeflecht und gelangten wieder zum Weg zurück. Und dort sagte Drachenkind in einem abgehackten, wütenden Flüstern: »Wie konntest du mir diesen Namen geben!«
Die Hexe sagte nichts.
»Er ist nicht richtig. Das ist nicht mein wahrer Name! Ich dachte, mein Name würde bewirken, daß ich ich bin. Aber der macht es nur noch schlimmer. Du hast dich geirrt. Du bist nur eine Hexe. Du hast
Weitere Kostenlose Bücher