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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ließ. Aber sie mochte die niedrige, enge Kabine nicht, war jeden Tag an Deck geblieben und hatte in warmen Nächten sogar dort geschlafen. Elfenbein hatte nicht versucht, sie in die Kabine zu locken. Er wußte, daß es nichts nützte, sie zu locken. Wenn er sie haben wollte, mußte er sie meistern; und das würde ihm gelingen, wenn sie nur erst einmal auf Roke waren.
    Er kam wieder an Deck. Als die Sonne unterging, brachen die Wolken im ganzen Westen auf und zeigten einen goldenen Himmel über der hohen, dunklen Silhouette eines Hügels.
    Elfenbein sah den Hügel mit einer Art von Haßliebe an.
    »Das ist der Kogel von Roke, Bursche«, sagte der Wetterwirker zu Drachenkind, die neben ihm an der Reling stand. »Wir laufen jetzt in die Bucht von Thwil ein. Wo es keinen Wind gibt außer dem Wind, den sie wollen.«
    Als sie in die Bucht eingelaufen waren und den Anker gesetzt hatten, war es dunkel, und Elfenbein sagte zum Schiffsmeister: »Morgen früh gehe ich an Land.«
    Unten in ihrer winzigen Kabine saß Drachenkind und wartete auf ihn, ernst wie immer, aber ihre Augen leuchteten vor Aufregung. »Wir gehen morgen früh an Land«, wiederholte er für sie, worauf sie ergeben nickte. Sie sagte: »Sehe ich gut aus?«
    Er setzte sich auf seine schmale Pritsche und sah sie auf ihrer an; sie konnten einander nicht direkt gegenüber sitzen, weil nicht genügend Platz für die Knie war. In O Port hatte sie sich ein anständiges Hemd und Reithosen gekauft, damit sie wie ein Kandidat der Schule aussah. Ihr Gesicht war vom Wind gerötet und sauber geschrubbt. Das Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, und der Zopf war eingeschlagen, wie der von Elfenbein. Auch die Hände waren sauber, und sie lagen flach auf den Oberschenkeln, lange, kräftige Hände, wie die eines Mannes.
    »Du siehst nicht wie ein Mann aus«, sagte er. Sie machte ein langes Gesicht. »Für mich nicht. Für mich wirst du nie wie ein Mann aussehen. Aber sei unbesorgt. Für sie schon.«
    Sie nickte mit besorgtem Gesichtsausdruck.
    »Der erste Test ist der große Test, Drachenkind«, sagte er. Jede Nacht, die er allein in ihrer Kabine gelegen hatte, hatte er dieses Gespräch geübt. »In das Großhaus zu gelangen; durch jene Tür zu treten.«
    »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie hastig und ernst. »Könnte ich ihnen nicht einfach sagen, wer ich bin? Wenn du dabei bist, um für mich zu sprechen, um ihnen zu sagen, daß ich eine Gabe habe, auch wenn ich eine Frau bin - und ich könnte versprechen, den Eid zu schwören und das Gelübde des Zölibats abzulegen und abseits wohnen, wenn sie wollen . . .«
    Er schüttelte während der ganzen Rede den Kopf. »Nein, nein, nein, nein. Hoffnungslos. Nutzlos. Fatal.«
    »Auch wenn du . . .«
    »Auch wenn ich für dich sprechen würde. Sie würden nicht zuhören. Das Gesetz von Roke verbietet, daß Frauen die Hohe Kunst oder auch nur ein Wort der Sprache des Schöpfens beigebracht wird. Das war immer so. Sie werden nicht zuhören. Also muß man es ihnen zeigen! Und wir werden es ihnen zeigen, du und ich. Wir werden ihnen eine Lektion erteilen. Du mußt tapfer sein, Drachenkind. Du darfst nicht schwach werden und denken: ›Oh, wenn ich sie einfach anflehe, mich einzulassen, können sie es mir nicht verwehren.‹ Sie können es tun, und sie werden es tun. Und wenn du dich zu erkennen gibst, werden sie dich bestrafen. Und mich.« Er legte eine besondere Betonung auf das letzte Wort und murmelte innerlich: »Behüte.«
    Sie sah ihn mit unergründlichen Augen an und sagte schließlich: »Was muß ich tun?«
    »Vertraust du mir, Drachenkind?«
    »Ja.«
    »Wirst du mir rückhaltlos vertrauen - wohl wissend, daß mein Risiko viel größer ist als dein Risiko bei diesem Unterfangen?«
    »Ja.«
    »Dann mußt du mir das Wort sagen, das du dem Türhüter sagen wirst.«
    Sie sah ihn an. »Aber ich dachte, das würdest du mir sagen - das Kennwort.«
    »Das Kennwort, das er von dir wissen will, ist dein wahrer Name.«
    Er ließ sie das eine Weile verarbeiten, dann fuhr er sanft fort: »Und damit ich den Zauber der Ähnlichkeit bei dir wirken kann, damit er so vollständig und tief wird, daß die Meister von Roke einen Mann in dir sehen und nichts anderes, damit ich das kann, muß auch ich deinen Namen kennen.« Er machte wieder eine Pause. Während er es sagte, kam ihm jedes Wort wahr und aufrichtig vor, und seine Stimme klang bewegt und sanft, als er fortfuhr. »Ich hätte ihn schon vor langer Zeit erfahren können. Aber ich

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