Der siebte Schrein
habe beschlossen, diese Künste nicht anzuwenden. Ich wollte, daß du mir genug vertraust, um mir deinen Namen selbst zu verraten.«
Sie betrachtete ihre Hände, die sie jetzt um die Knie geschlungen hatte. Im schwachen rötlichen Licht der Kabinenlaterne warfen ihre Wimpern lange, feine Schatten auf ihre Wangen. Sie schaute auf und sah ihn unverwandt an. »Mein Name ist Irian«, sagte sie.
Er lächelte. Sie lächelte nicht.
Er sagte nichts. Tatsächlich war er ratlos. Wenn er gewußt hätte, daß es so einfach sein würde, hätte er ihren Namen und damit die Macht, sie tun zu lassen, was er wollte, schon vor Tagen, vor Wochen haben können, hätte diesen irren Plan nur vortäuschen müssen - ohne sein Salär und sein zweifelhaftes Ansehen aufs Spiel zu setzen, ohne diese Seereise zu unternehmen, ohne den ganzen Weg bis Roke dafür zurücklegen zu müssen! Denn nun betrachtete er den ganzen Plan als Narretei. Er konnte sie unmöglich so verkleiden, daß sie den Türhüter auch nur eine Sekunde täuschen würde. Sein Wunsch, die Meister so zu demütigen, wie sie ihn gedemütigt hatten, war reine Traumtänzerei. Er war so besessen davon gewesen, das Mädchen rumzukriegen, daß er selbst in die Falle getappt war, die er ihr gestellt hatte. Verbittert sah er ein, daß er stets seine eigenen Lügen glaubte und sich in den Netzen verfing, die er auf so kunstvolle Weise knüpfte. Nachdem er sich auf Roke zum Narren gemacht hatte, war er zurückgekehrt, um es noch einmal zu machen. Eine gewaltige, trostlose Wut wallte in ihm auf. Es war vergeblich, alles war vergeblich.
»Was ist los?« fragte sie. Ihre sanfte, heisere und tiefe Stimme raubte ihm den Mut, und er verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die Schande der Tränen an.
Sie legte ihm eine Hand auf das Knie. Es war das erste Mal, daß sie ihn berührte. Er ließ es geschehen, erduldete die Wärme und Last ihrer Berührung, für die er soviel Zeit vergeudet hatte.
Er wollte ihr weh tun, sie schütteln, damit diese schreckliche, unwissende Güte von ihr abfiel, aber als er endlich wieder Worte fand, sagte er: »Ich wollte nur mit dir schlafen.«
»Wirklich?«
»Hast du geglaubt, ich wäre einer ihrer Eunuchen? Daß ich mich mit Zaubersprüchen kastrieren würde, um heilig zu sein? Was meinst du, warum ich keinen Stab habe? Was meinst du, warum ich nicht in der Schule bin? Hast du alles geglaubt, was ich dir gesagt habe?«
»Ja«, sagte sie. »Es tut mir leid.« Ihre Hand lag immer noch auf seinem Knie. »Wir können immer noch miteinander schlafen, wenn du willst.«
Er richtete sich auf, blieb still sitzen.
»Was bist du?« sagte er schließlich zu ihr.
»Ich weiß nicht. Deshalb wollte ich nach Roke kommen. Um es herauszufinden.«
Er riß sich los, stand gebückt auf; sie konnten beide in der niedrigen Kabine nicht aufrecht stehen. Er ballte die Fäuste und entspannte sie wieder, wandte ihr den Rücken zu und blieb so weit von ihr entfernt stehen, wie er konnte.
»Du wirst es nicht herausfinden. Es sind alles nur Lügen und Täuschungen. Alte Männer, die Spiele mit Worten spielen. Ich wollte ihr Spiel nicht mitspielen, darum bin ich gegangen. Weißt du, was ich getan habe?« Er drehte sich um und bleckte die Zähne zu einer Fratze des Triumphs. »Ich habe ein Mädchen, ein Mädchen aus der Stadt, in mein Zimmer kommen lassen. Meine Zelle. Meine kleine Zölibatzelle aus Stein. Ich hatte ein Fenster mit Ausblick auf eine Gasse. Keine Zaubersprüche - man kann bei ihrer ganzen Magie keine Zaubersprüche wirken. Aber sie wollte kommen und kam, und ich ließ eine Strickleiter zum Fenster hinunter, und sie kletterte hoch. Und wir waren gerade dabei, als die alten Männer hereingeplatzt sind! Ich hatte es ihnen gezeigt! Und wenn ich dich hineingeschmuggelt hätte, dann hätte ich es ihnen wieder gezeigt, dann hätte ich ihnen eine Lektion erteilt!«
»Nun, ich werde es versuchen«, sagte sie.
Er starrte sie an.
»Nicht aus demselben Grund wie du«, sagte sie, »aber ich will es immer noch. Wir sind schon so weit gekommen. Und du kennst meinen Namen.«
Das stimmte. Er kannte ihren Namen: Irian. Er war wie ein Kohlefeuer, wie brennende Glut in seinem Geist. Sein Denken konnte ihn nicht halten. Sein Wissen konnte ihn nicht benutzen. Seine Zunge konnte ihn nicht aussprechen.
Sie schaute zu ihm auf, und das dunkle Laternenlicht machte ihr kräftiges, markantes Gesicht weicher. »Wenn du mich nur hergebracht hast, um mit mir zu schlafen,
Weitere Kostenlose Bücher