Der siebte Schrein
starrte sie unverblümt an. Er war nicht so groß wie sie. Er sah den Türhüter an, dann wieder sie.
»Vergib mir, daß ich in deinem Beisein über dich spreche, junge Frau«, sagte er, »aber es muß sein. Meister Türhüter, Sie wissen, daß ich Ihr Urteil niemals in Frage stelle, aber das Gesetz ist eindeutig. Ich muß fragen, was Sie veranlaßt hat, das Gesetz zu brechen und ihr Einlaß zu gewähren.«
»Sie hat darum gebeten«, sagte der Türhüter.
»Aber . . .« Der Meister Verwandler verstummte.
»Wann hat eine Frau zum letztenmal gebeten, die Schule zu betreten?«
»Sie wissen, daß das Gesetz es nicht erlaubt.«
»Hast du das gewußt, Irian?« fragte der Türhüter, und sie antwortete: »Ja, Sir.«
»Also was hat dich hierher geführt?« fragte der Meister Verwandler streng, aber ohne seine Neugier zu verbergen.
»Meister Elfenbein sagte, ich könnte als Mann gelten. Aber ich dachte, ich sage lieber, wer ich bin. Ich werde so zölibatär wie alle anderen leben, Sir.«
Die langen Kurven erschienen wieder auf den Wangen des Türhüters und schlossen das langsam entstehende Lächeln ein. Das Gesicht des Meisters Verwandler blieb streng, aber er blinzelte und sagte nach kurzem Nachdenken: »Da bin ich sicher - ja - es war eindeutig der bessere Plan, ehrlich zu sein. Von welchem Meister hast du gesprochen?«
»Elfenbein«, sagte der Türhüter. »Ein junger Mann aus dem Großen Hafen von Havnor, den ich vor drei Jahren herein- und letztes Jahr wieder hinausgelassen habe, wie Sie sich erinnern werden.«
»Elfenbein! Der Bursche, der mit Hand studiert hat? Ist er hier?« wollte der Meister der Verwandlungen erbost von Irian wissen. Sie stand aufrecht und sagte nichts.
»Nicht in der Schule«, sagte der Türhüter lächelnd.
»Er hat dich zum Narren gehalten, junge Frau. Hat dich zur Närrin gemacht, indem er versucht hat, uns zu Narren zu machen.«
»Ich habe ihn benutzt, damit er mir hilft, hierherzukommen, und mir verrät, was ich dem Türhüter sagen muß«, sagte Irian. »Ich bin nicht hier, um jemanden zum Narren zu halten, sondern um zu lernen, was ich wissen muß.«
»Ich habe mich oft gefragt, warum ich den Jungen hereingelassen habe«, sagte der Türhüter. »Allmählich komme ich dahinter.«
Nun sah ihn der Meister Verwandler an und fragte nach einer kurzen Pause ernst: »Türhüter, woran denken Sie?«
»Ich glaube, Irian von Weg könnte nicht nur zu uns gekommen sein, um zu lernen, was sie wissen muß, sondern auch, was wir wissen müssen.« Der Tonfall des Türhüters war ebenfalls ernst, sein Lächeln verschwunden. »Ich denke, dies sollte Anlaß zu einem Gespräch unter uns neun sein.«
Das nahm der Meister Verwandler mit einer Miene aufrichtigen Erstaunens hin; aber er stellte dem Türhüter keine Frage. Er sagte nur: »Aber nicht unter den Schülern.«
Der Türhüter schüttelte zustimmend den Kopf.
»Sie kann in der Stadt wohnen«, sagte der Meister Verwandler sichtlich erleichtert.
»Während wir hinter ihrem Rücken reden?«
»Sie werden sie doch nicht in den Ratssaal bringen?« fragte der Meister Verwandler fassungslos.
»Der Erzmagier hat den Knaben Arren dorthin gebracht.«
»Aber . . . aber Arren war König Lebannen . . .«
»Und wer ist Irian?«
Der Meister Verwandler schwieg einen Moment und sagte dann leise, voll Respekt: »Mein Freund, was gedenken Sie zu tun, um zu lernen? Was ist sie, daß Sie das für sie verlangen?«
»Wer sind wir«, entgegnete der Türhüter, »daß wir sie ablehnen, ohne zu wissen, was sie ist?«
»Eine Frau«, sagte der Meister Gebieter.
Irian hatte einige Stunden in der Kammer des Türhüters gewartet, einem niedrigen, hellen, kahlen Raum mit einem Fenster, dessen kleine Scheiben Ausblick auf die Küchengärten des Großhauses boten - hübsche, gepflegte Gärten, lange Reihen und Beete mit Gemüse, Grünpflanzen und Kräutern, mit Beerenstauden und dahinter Obstbäumen. Sie sah einen vierschrötigen, dunklen Mann und zwei Jungen herauskommen und eines der Gemüsebeete jäten. Es beruhigte sie, ihnen bei ihrer gründlichen Arbeit zuzusehen. Sie wünschte sich, sie hätte ihnen dabei helfen können. Das Warten und die seltsame Atmosphäre waren schwer zu ertragen. Einmal kam der Türhüter herein und brachte ihr einen Teller mit kaltem Braten und Brot und Frühlingszwiebeln, und sie aß, weil er es ihr sagte, obwohl es Schwerarbeit war, zu kauen und zu schlucken. Die Gärtner gingen wieder, und danach gab es nichts mehr in dem
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