Der siebte Schrein
von hinten«, sagte Spacia und zeigte auf ihn. »Als ob man den übersehen könnte!« fuhr sie in einem leicht spöttischen Tonfall fort und zwinkerte Tenna zu. Dann flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand, daß nur Tenna es hören konnte: »Sie war so sicher, daß er nicht kommen würde . . . Ha!«
Tenna grinste und begriff endlich, warum Rosa heute morgen draußen sitzen wollte und warum sie Spacia hineingeschickt hatte, als sie mehr Klah brauchten.
Und auf einmal, als wäre die Ankunft der Läufer das Signal gewesen, war die Zusammenkunft bereit. Alle Stände waren aufgebaut und bestückt, die erste Schicht Harfner auf der Bühne und zum Konzert bereit. Rosa zeigte auf die breiten Stufen, die vom Eingang der Burg hinabführten, und da kamen Burgherr und Burgherrin, die in ihren braunen Gewändern prachtvoll aussahen und langsam herunterschritten, um den Hof der Zusammenkunft offiziell freizugeben. Sie wurden von den Drachenreitern und einer Schar von Leuten begleitet, jung und alt und alle mit dem Burgherrn verwandt. Rosa zufolge hatte Baron Groghe eine große Familie.
»Oh, laß uns die Eröffnung nicht verpassen«, sagte Spacia zu Tenna. Rosa hatte Cleve in die Station begleitet und half Penda, der Gruppe von Boll nach ihrem langen Lauf ein zweites Frühstück zuzubereiten.
Und so hatten die beiden Mädchen gute Plätze, um Burgherr und Burgherrin ihren offiziellen Rundgang durch die Zusammenkunft machen zu sehen.
»Da ist Haligon«, sagte Spacia in scharfem Ton.
»Welcher?«
»Er trägt Braun«, sagte Spacia.
Jetzt war Tenna auch nicht schlauer. »Da sind eine Menge Leute, die Braun tragen.«
»Er geht direkt hinter Baron Groghe.«
»Eine Menge andere Leute auch.«
»Er hat den schönsten Lockenkopf«, fügte Spacia hinzu.
Es gab zwei, auf die diese Beschreibung zutraf, aber Tenna entschied, daß es der kleinere der jungen Männer sein mußte, dessen Gang etwas Angeberisches hatte. Das mußte Haligon sein. Er war nicht häßlich, aber der größere Mann in Braun gefiel ihr besser: Er war vielleicht nicht so attraktiv, hatte aber ein netteres Grinsen im Gesicht. Seinem selbstgefälligen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hielt sich Haligon offenbar für einen tollen Burschen.
Tenna nickte. Sie würde ihm Saures geben, das würde sie.
»Komm, wir sollten uns umziehen, bevor das Volk sich oben breitmacht«, sagte Spacia und berührte Tenna am Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Jetzt, wo sie Haligon identifiziert hatte, war Tenna durchaus bereit, so gut herauszuputzen, wie sie konnte. Spacia war ebenfalls fest entschlossen, ihr dabei zu helfen, und machte sich viel Mühe mit Tennas Äußerem, frisierte ihr das Haar, so daß es das Gesicht umrahmte, half ihr mit Lippenstift und einem Hauch Lidschatten.
»Bringt das Blaue in ihnen zur Geltung, obwohl deine Augen eigentlich grau sind, richtig?«
»Kommt drauf an, was ich anziehe.« Tenna drehte sich einmal vor dem großen Spiegel herum, so daß das diagonal geschnittene Kleid um ihre Knöchel wirbelte. Sie war Spacias Vorschlag gefolgt und füllte die etwas zu großen geborgten Schuhe mit dicken Socken aus. Und sie sahen auch nicht klobig am Ende ihrer Beine aus, wie es aufgrund ihrer langen Füße häufig vorkam. Sie mußte mit einem Anflug von Zufriedenheit zugeben, daß sie »hübsch« aussah.
Dann stellte sich Spacia neben sie, und ihr gelbes Kleid bildete einen attraktiven Kontrast zu Tennas dunkelblauem.
»Huch, ich sollte dir besser noch ein Paar Läuferkordeln suchen, sonst denken alle, du bist neu in der Harfnerhalle.«
»Vielleicht sollte es so aussehen, als ob ich zur Harfnerhalle gehöre«, sagte Tenna nachdenklich. »Auf diese Weise könnte ich Haligon die Hölle heiß machen, bevor er Verdacht schöpft.«
»Hmm, das wäre tatsächlich eine gute Idee«, stimmte Spacia zu.
Rosa kam herein und zerrte an ihren Sachen, so eilig hatte sie es, sich umzuziehen.
»Brauchst du Hilfe?« fragte Spacia, als Rosa ihr pinkfarbenes Zusammenkunftskleid mit dem Blumenmuster vom Bügel zog.
»Nein, nein, aber geht da runter und haltet Felisha von Cleve fern! Wißt ihr, sie ist fest entschlossen, ihn sich zu angeln. Kam hereinspaziert, bevor er auch nur mit Essen fertig war, und hat sich an seinen Arm gehängt, als wären sie ein Paar.« Rosas Stimme klang gedämpft, als sie sich das Kleid über den Kopf zog. Sie hörten alle ein leises Reißen, worauf Rosa erschrocken aufschrie und mit dem halb angezogenen Kleid vollkommen reglos stehen blieb.
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