Der siebte Schrein
so viele Menschen gesehen, geschweige denn Menschen, die sie gar nicht kannte. Sie kannte jeden einzelnen in Coney Crossing. Die Stadt machte sie kleinmütig, aber nicht so verzagt wie die Feste, die auf dem Berg darüber in den Himmel ragte, und beides nicht so sehr wie der Grund, aus dem sie hier war.
Sie wollte nur nach Hause. Aber es würde kein Zuhause mehr geben, jedenfalls keines, wohin sie zurückkehren konnte, wenn sie dies nicht hinter sich brachte.
Alle schauten auf, als Hufschlag unter dem Fallgatter erklang. Große Pferde, alle dunkelbraun oder schwarz und größer, als Abby sie je gesehen hatte, donnerten auf sie zu. Männer mit polierten Brustplatten, Kettenpanzern und Leder, von denen die meisten Lanzen oder Speere mit den Wimpeln hoher Rangabzeichen trugen, trieben ihre Reittiere an. Sie wirbelten Staub und Geröll auf, als sie auf der Brücke beschleunigten und in einem wilden Sturm von Farben und Funken und Licht auf vorbeiflitzendem Metall vorüberstoben. Sandarianische Lanzenreiter, nach den Beschreibungen zu urteilen, die Abby gehört hatte. Sie konnte sich kaum einen Feind vorstellen, der den Mut aufbrachte, gegen Männer wie diese anzutreten.
Der Magen drehte sich ihr um. Ihr wurde klar, daß sie sich nichts vorstellen mußte und keinen Grund hatte, ihre Hoffnung auf tapfere Männer wie diese Lanzenreiter zu setzen. Ihre einzige Hoffnung war der Zauberer, und diese Hoffnung schwand zusehends, während sie hier stand und wartete. Aber sie hatte keine andere Wahl, als zu warten.
Abby drehte sich gerade noch rechtzeitig zur Feste um, daß sie eine stattliche Frau in einem schlichten Kleid durch die Öffnung in der massiven Steinmauer herausschreiten sah. Die blasse Haut hob sich um so deutlicher von dem schwarzen Haar ab, das in der Mitte gescheitelt war und gut und gerne bis auf ihre Schultern reichte. Einige Männer hatten beim Anblick der Sandarianischen Offiziere getuschelt, aber beim Anblick der Frau verstummten alle. Die vier Soldaten an der steinernen Brücke machten der Frau Platz, als sie sich den Bittstellern näherte.
»Hexenmeisterin«, flüsterte die alte Frau Abby zu.
Abby hätte die Erklärung der alten Frau nicht gebraucht, um zu wissen, daß es sich um eine Hexenmeisterin handelte. Abby kannte das schlichte Flachskleid, das am Hals mit gelben und roten Perlenstickereien in Form der uralten Symbole ihres Berufsstands verziert war. Abbys früheste Erinnerungen waren, wie sie von ihrer Mutter auf den Armen gehalten wurde und Perlen berührte, wie sie sie jetzt sah.
Die Hexenmeisterin neigte den Kopf vor den Leuten und lächelte. »Bitte vergebt uns, daß wir euch den ganzen langen Tag hier draußen warten ließen. Es geschah nicht aus mangelndem Respekt oder schlechter Gewohnheit, aber durch den Krieg sind solche Vorsichtsmaßnahmen zu unserem Bedauern unvermeidlich. Wir hoffen, daß uns niemand die Verzögerung übelgenommen hat.«
Die Menge murmelte, daß dem so sei. Abby bezweifelte, daß es einen unter ihnen gab, der tollkühn genug gewesen wäre, etwas anderes zu behaupten.
»Wie steht der Krieg?« fragte ein Mann weiter hinten.
Die Hexenmeisterin richtete den Blick gelassen auf ihn. »Mit dem Segen der guten Geister wird er bald zu Ende sein.«
»Mögen die Geister dafür sorgen, daß D´Hara zerschmettert wird«, sagte der Mann.
Ohne zu antworten, studierte die Hexenmeisterin die Gesichter, die ihr zugewandt waren, und wartete, ob noch jemand sprechen oder eine Frage stellen würde. Niemand sagte etwas.
»Dann kommt bitte mit mir. Die Sitzung des Rats ist zu Ende, einige Zauberer werden sich die Zeit nehmen, euch alle zu empfangen.«
Als die Hexenmeisterin sich zur Feste umdrehte und sich auf den Weg machte, schritten drei Männer an den Reihen der Bittsteller vorbei und stellten sich an den Anfang der Schlange, direkt vor die alte Frau. Die Frau zupfte einen am Ärmel seiner Samtjacke.
»Was bildet ihr euch ein?« sagte sie. »Euch einfach vor mich zu stellen, wo ich schon den ganzen Tag hier warte?«
Der älteste der drei, der ein Gewand in dunklem Purpur trug, in dessen Ärmelschlitze rotes Futter eingenäht war, das einen schroffen Kontrast bildete, schien ein Adliger mit seinen beiden Ratgebern oder möglicherweise Leibwächtern zu sein. Er maß die Frau mit einem finsteren Blick. »Es macht dir doch nichts aus, oder?«
Abby fand gar nicht, daß es sich wie eine Frage anhörte.
Die alte Frau nahm die Hand weg und verstummte.
Der Mann, dessen graue
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