Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
eine Hintertür gibt. Und ein Gesetz, dass sie nicht verschlossen ist.
Sie drückte die Klinke nach unten, und das Holz knirschte. Einen Moment lang geschah nichts weiter. Erst als sie die Schulter gegen die alte Tür stemmte, quietschten ungeölte Angeln auf, so laut und schrill, dass Mina zusammenfuhr. Sie ließ die Klinke los, aber die Tür wich unter ihrer Schulter zurück, sie verlor das Gleichgewicht und stolperte über eine hohe Schwelle ins Innere des Waisenhauses.
Kalte Luft berührte sie mit klammen Fingern. Ihre Füße klatschten auf kühlen, glatten Boden, der merkwürdig bewegt aussah, während sie darübertaumelte. Das Licht, das
von irgendwoher kam, war schwach, sie erkannte erst spät, dass es Kacheln vor ihr auf dem Boden waren, schwarze und weiße im regelmäßigen Wechsel, der sich im Dunkel verlor. Sie hielt sich im Türrahmen fest, fing im letzten Moment das schwere Holz auf, das nach innen schwang. Ein Klicken, als sie so behutsam wie möglich die Klinke zuzog.
Dann Stille.
Ihr Atem beruhigte sich nur zögernd. In dem tiefen Schweigen des Hauses hörte sie ihn so deutlich, dass sie ihn beinahe sehen konnte, kleine, durchscheinende Wölkchen, die sich von ihrem Mund lösten. Sie trieben durch leere Gänge wie nächtliche Seufzer …
Was tue ich hier?, dachte Mina verwirrt. Was will ich denn nur in diesem schlafenden Haus? Fremde Menschen liegen in ihren Betten, und ich, Mina, bin durch ihre Hintertür hineinspaziert, wie ein Dieb oder ein … Zigeuner.
Sie rieb sich über die Nasenspitze.
Die Tür war immer noch dicht hinter ihr, sie konnte sie in ihrem Rücken fühlen. Es wäre leicht, kehrtzumachen und leise wie eine Nachtmaus wieder hinauszuhuschen, um - um was? Von dieser Seite lehnte keine faule junge Eiche gegen die Mauer. Der Hof war kahl gewesen. Wie sollte sie wieder hinüberkommen, zurück zu Rosa?
Sie drehte diesen Gedanken ein Weilchen hin und her, ohne eine Antwort zu finden. Als sie es schließlich aufgab, blieb ihr nicht viel anderes übrig, als einen ersten, zweiten und dritten Schritt in den schummrigen Flur zu tun.
Ihre Fußsohlen klebten an den Fliesen, lösten sich mit einem kleinen, schmatzenden Geräusch, wenn sie sich bewegte. Es klang so unpassend und so albern, dass sie ein Ziehen in den Mundwinkeln spürte. Mit zusammengekniffenen
Lippen tapste sie vorwärts, in die Richtung, aus der das schwache Licht zu kommen schien.
Hinter einer Biegung wurde es stärker, gelblicher, und der Flur weitete sich. Eine Art Halle oder ein großes Treppenhaus, kalt und glatt wie der Gang; eine einzige Gaslampe, hoch oben in der Wand, über einer breiten Treppe ohne Läufer. Sie führte nach oben, erst in den Lampenschein hinein, dann aus ihm hinaus. Was dahinterlag, war nicht zu erkennen.
Unsicher legte Mina die Hand auf das Treppengeländer. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was es eigentlich war, das sie hier suchte. Und wo sie es finden sollte. Aber oben, im ersten Stock, gab es vielleicht Fenster, die nicht vermauert waren. Fenster, aus denen sie in den Hof sehen konnte. Die ihr den Weg zurück zeigen würden.
Sie legte die freie Hand auf das Medaillon unter dem Kleid.
Die Stufen knarrten nicht, sie waren aus kühlem Stein, so abgetreten, dass er sich beinahe weich anfühlte. Zehn, zwölf, fünfzehn von ihnen zählte Mina, während ihr Schatten an der Wand neben ihr durch das Lampenlicht schlich. Mit den wirren, abstehenden Haaren sah er aus wie ein kleiner Kobold.
Der Boden im ersten Stock war nicht so schweigsam. Dielen murrten schläfrig, als sie die Füße daraufstellte; sie wartete eine Ewigkeit mit angehaltenem Atem, bevor sie den nächsten Schritt wagte. Zu ihrer Enttäuschung waren es nur Türen, die sie erwarteten, eine neben der anderen, keine Fenster. Aber die Treppe stieg weiter.
Auf Zehenspitzen huschte Mina über die verräterischen Dielen auf die nächste sichere, steinerne Stufe. Eine zweite
Lampe hier, hoch oben wie die erste, während der Flur im Dunkeln lag. Irgendwo hinter den vielen Türen schliefen die Menschen tief. So tief, dass es fast so war, als wären sie gar nicht da.
Nirgendwo, dachte Mina, während sie die Hand auf dem Treppengeländer entlangschob, nirgendwo sah man auch nur das geringste Zeichen von ihnen. Keine Bilder an den Wänden, nicht einmal Drucke. Keine Schränke unten mit Schuhen für den Garten - gab es hier überhaupt einen Garten? Keine Pflanzen auf den Treppenbögen, keine Läufer, um die Absätze zu schonen. Nur
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