Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Schemen ihr nichts Böses wollten. Vielleicht sagten sie es ihr auch, in einer Sprache, die man nicht mit den Ohren verstehen konnte. Aber vor allem sagten sie eines, immer wieder:
Du musst weitergehen, Mina. Weiter.
Und sie wusste, dass sie Recht hatten.
Vorsichtig stand sie auf, die Schemen wichen in die schattigen Winkel zurück. Sie lauschte in sich hinein. Fand nichts, was sie vermisste. Nichts, was im schwarzen Wasser der Taterkuhle von ihr gerissen worden wäre. Ruhe fühlte sie, unter dem Glitzern und dem Flüstern, die sie umgaben wie eine schillernde Hülle.
Und eine seltsame Leichtigkeit. Ein Schweben in ihren Knochen und Gliedern, die sich wie von selbst mit nur der allerleisesten Anstrengung bewegten. Ein sachtes Schwirren tief in ihrem Inneren, als ob schwere Gewichte sich, ohne dass sie es bemerkt hatte, in flimmernde Stäubchen aufgelöst hätten. Es mochte von der Erleichterung stammen, sich nicht mehr gegen den Widerstand des Wassers bewegen zu müssen; vom Leben, das nach Ziehen und Zerren, nach Strömung und Stein beseelt durch ihren Körper tanzte. Oder vom Kleid, dem schweren Konfirmationskleid, das nicht mehr an ihren Schultern hing.
Sie hätte wohl Scham empfinden sollen, wolkenbruchnass in dem dünnen weißen Fähnchen. Wie am Eingang
zur Taterkuhle noch. Aber unter dem Schimmern und Raunen schien es bedeutungslos geworden zu sein, wie viel Haut sie von ihren Beinen, ihren Armen zeigte.
Sie schämte sich nicht. Sie fror nicht einmal.
Die Spieluhr tropfte in ihrer Hand. Mina betrachtete sie traurig. Als sie sie vorsichtig schüttelte, drang ein schwaches Zirpen aus dem Mechanismus.
Er gefiel den Schemen nicht, dieser Ton. Sie drängten sich dichter zusammen, die alten, wispernden Stimmen bekamen einen anderen Klang. Rauer, trockener. Felsen, der auf anderem Felsen rieb.
Lärm! , sagte dieser Klang. Lärm dort, wo Stille herrschen sollte.
Aber es ist doch so leise, dachte Mina verwundert. Die Spieluhr ist im Wasser ertrunken. Nicht mehr als dieses kleine, dünne Geräusch steckt noch in ihr.
Lärm! , antworteten die Stimmen auf ihre Weise. Muss aufhören, aufhören.
Da erinnerte sich etwas in Mina. An die Geschichten von den Pächtern, die der Vater manchmal erzählte. Sein Spotten über ihre dummen alten Bräuche. Teile der Ernte brachten sie nicht in die Scheunen, sondern auf irgendwelche Hügel, wo sie sie im Regen verkommen ließen. Sogar Essen trugen ihre Frauen dorthin, manchmal, an den Feiertagen. Um das zu beruhigen, was unter der Erde träumte, und was nichts mehr verabscheute und fürchtete als das Geläut der Kirchenglocken.
Man konnte, glaubten die Bauern, an diesen Hügeln um Geld bitten, um eine gute Ernte, um ein gesundes Kind. Und wenn man ein reines Herz besaß, konnte es sein, dass man bekam, worum man gebeten hatte. Und nie vergaß es
einer, der solche Geschenke erhalten hatte, sich hinterher dafür erkenntlich zu zeigen. Geliehenes Geld wurde zum Hügel zurückgetragen, wo es, spottete der Vater, wohl der nächste Vagabund freudig an sich nahm. Mehl und Garben der glücklichen Ernte wurden dort verteilt, wahrscheinlich nicht mehr als den Vögeln zum Fraß. Und keinem Kind wurde je erlaubt, auf einem solchen Hügel zu spielen und Lärm zu machen.
Es waren die Unterirdischen, die in den Hügeln lebten. Das Kleine Volk vom Anbeginn der Zeit.
Langsam bückte Mina sich und stellte die Spieluhr ab. Sie gab noch ein leises Klirren von sich, das die Schemen in ihren Augenwinkeln zu noch dichteren Schatten zusammentrieb. Dann schwieg sie, und das Licht aus den Wänden glitzerte stumm über sie hin.
Sie fühlte die Zustimmung um sich herum, im körperlosen Raunen und Murmeln. Feiner grauer Rauch schien in dünnen Fäden auf den nun schweigenden Kasten zuzutreiben, ihn zu umstreichen, ihn zu betasten. In seiner Mitte schimmerten die Kristallsplitter heller als zuvor.
Lange stand Mina da und betrachtete die Spieluhr. Jeden Schritt des Weges war sie mit ihr gegangen. Im Kindermantel. In Liljas Bündel. In Minas Hand. Aber die Unterirdischen würden sie mit ihr nicht passieren lassen. Und passieren musste sie. Selbst wenn sie den Weg, den sie weiterzugehen hatte, nicht einmal sehen konnte.
Unendlich schwer fiel es ihr, die Spieluhr zurückzulassen. Der einzige Trost, den Mina für sich fand, war, dass sie den Tatern ein Zeichen sein konnte, wenn es ihnen gelang, ihr in die Höhle zu folgen. Ein Zeichen, dass sie wohlauf war. Mehr fand sie nicht, und es tat ihr so weh,
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