Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
strengen Blick zu.
»Kein Reden«, murmelte sie dabei aus dem Mundwinkel. »Sie haben es versprochen.«
Tausendschön setzte die kleine weiße Tatze ein zweites Mal behutsam auf die Steine.
»Schön, schön«, fauchte er. »Obwohl es nicht gerade so aussieht, als drängten sich die Leute, um eine sprechende Katze zu hören.«
Er hatte Recht. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße schienen im Mittagsschlaf zu dösen. Nichts regte sich.
Trotzdem fühlte Mina sich unbehaglich, als der letzte Rest Schatten von ihrer Schulter glitt. Sie schüttelte das Kleid und den dünnen Mantel aus, so gut es ging; vertrocknete
Grashalme rieselten auf die Steine. Tausendschön betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf.
»Wie eine Vogelscheuche«, stellte er fest. »Ihre Tante wird denken, Sie hätten die Nacht in einem Heuschober verbracht.«
»Nein, auf einer feuchten Wiese!« Mina schnaubte und versuchte, sich die Haare zu glätten. Sie konnte fühlen, dass sie ihr in alle Richtungen vom Kopf abstanden.
Tausendschön schnurrte kurz und rieb sich an ihrem Bein.
»Seien Sie doch nicht so gereizt, liebe Mina. Hocken Sie sich einmal hin, ich helfe Ihnen schnell, ein wenig Coiffure zu machen. Nun kommen Sie, es sieht Sie doch niemand.«
Mina zerrte und zog an etwas Widerspenstigem, das sich in den Strähnen verfangen hatte. Es tat weh, und ohne Spiegel konnte sie nicht einmal sehen, was es war. Seufzend gehorchte sie schließlich, klemmte sich das Kleid unter die Kniekehlen, damit es nicht auch noch staubig wurde, und ließ sich vorsichtig auf die Fersen sinken.
»Sehen Sie, so ist es brav. Es geht ganz flink.«
Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch, als er ihr beide Vorderpfoten mit ausgefahrenen Krallen auf den Scheitel legte. Er machte ein Geräusch, das beinahe wie ein Kichern klang. Als er anfing, ihre Haare auszukämmen, berührten die scharfen Krallen ihre Kopfhaut kaum. Die Bewegungen waren so sanft, dass ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief.
»Ihre Schleife«, schnurrte Tausendschön, »kann ich Ihnen freilich nicht neu binden.«
Einen Moment lang kitzelte seine raue Zunge über ihre Haut, als er etwas mit den Zähnen aus ihren Haaren zog.
Er ließ es auf die Straße fallen; ein feuchtes, zerrissenes, fleckiges Stückchen Stoff, das einmal ein glänzendes Seidenband gewesen war.
»Aber, immerhin, so sieht es schon wieder ganz manierlich aus.«
Zögernd hob sie die Hände an den Kopf. Die Haare fühlten sich so glatt und weich an wie Tausendschöns Fell. Weil nur noch eines der Bänder übrig war, flocht sie sich einen einzigen langen Zopf den Rücken hinunter, straff, dass es an ihrer Stirn ziepte; so, wie es Frieda morgens machte.
Tausendschön schüttelte den Kopf. Seine Schnurrbarthaare zitterten missbilligend.
»Warum verunstalten Sie nur alles wieder? Sie haben so ein hübsches Fellchen. Wollen Sie es an den Kopf pressen, bis Sie aussehen wie eine nasse Katze?«
Mina hörte nicht auf ihn. Als sie die Flechten prüfend abtastete, waren sie nicht so regelmäßig und fest, wie sie es sein sollten, und die zerrupfte Schleife wirkte jämmerlich. Aber es fühlte sich viel ordentlicher an als vorher. Sie strich die letzten losen Strähnen glatt und richtete sich auf.
»Na«, sagte Tausendschön, »ganz, wie Sie meinen. Ich sage nichts mehr dazu. Ich bin ja nur ein Kater.«
»Sehr richtig, lieber Herr Tausendschön.« Mina schüttelte das Kleid ein letztes Mal auf. »Und von jetzt an halten Sie sich bitte daran.«
Sie setzte die Füße entschlossen auf die Straße, um auch den letzten Rest von Befangenheit zu verscheuchen. Hier bin ich, dachte sie, während sie auf die ersten Häuser zuging, nur ein Mädchen, das einen Spaziergang macht, um seine Tante zu besuchen. Es ist ein schöner Tag, warum sollte
ich es nicht tun? Vielleicht … Sie überlegte kurz, und eine kleine, lose Geschichte entrollte sich irgendwo in ihr zu einem feinen Band. Vielleicht mache ich mit der Familie ein frühes Picknick ganz in der Nähe? Und die Kutsche wartet dort hinter der nächsten Biegung? Ja, so wird es sein. Die Eltern ruhen ein wenig. Wir sind ja auch nicht angekündigt, es wäre unhöflich, die Tante zur Mittagsstunde so zu überfallen. Aber ich, ich bin ja nur ein Mädchen, ich kann hinübergehen und der Tante Grüße bringen.
Die Geschichte klang gut in ihrem Kopf.
Beim Gehen musterte sie den Wegesrand. Der Frühling war noch nicht erwachsen genug, es nickten nur wenige farbige Blütenköpfe zwischen
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