Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
voller Lebendigkeit.
Langsam, voller Misstrauen, drehte Mina den Kopf. Erst in die eine Richtung, dann in die andere. Sie konnte hören, woher der Ton kam. Er umgab sie nicht von allen Seiten zugleich wie das Rauschen der Geigen. Er suchte sich einen schmalen Pfad durch die Dunkelheit zu ihr hin. Von einem der Fenster. Ein Schemen schien sich hinter den Scheiben zu bewegen, und während sie hinsah, wurde er deutlicher. Ein Mann, der draußen im Dunkeln stand. Mina kniff die Augen zusammen. Weitere Töne reihten sich zu einer kleinen Melodie aneinander. Und mit einem ganz leichten, wie zufälligen Schritt trat Karol durch das Fenster, das auseinanderglitt wie spiegelndes Wasser.
Er hielt die Drehorgel in seinen Armen. Selbst hier, in dieser Welt aus Schatten, leuchteten ihre bunten Farben so hell wie am Mittag. Die Messingkurbel drehte sich langsam. Aber Karols Hand berührte sie nicht.
Mina setzte sich auf.
Der Taterkönig stellte die Drehorgel ab, und als er sie losließ, blieb sie von allein auf ihrem Stock stehen und spielte weiter ihre kleine Melodie.
Er kam auf sie zu. Bückte sich, strich durch die Luft über ihrer Wange, ohne sie zu berühren. Sie fühlte ihn wie Regen und Wind, und seine Augen waren so schwarz wie die
Nacht vor den unwirklichen Fenstern. Während sie ihn noch ansah, begannen die Sprossenscheiben hinter seinem Rücken zu verblassen. Baumschatten schoben sich durch die Wände des Saals; Ranken krochen über den Boden. Bis nichts mehr übrig war als ein paar alte, verwitterte Steine, die feucht waren unter Minas Knien.
Nur an einer Stelle blieb Dunkelheit liegen; dort vorn, zwischen den Bäumen. Mina starrte in den Schatten, wie gebannt von dem finstren Nichts da, wo etwas sein sollte. Etwas - was? Was war es noch gewesen, das sie an diesen Ort gelockt hatte? Es schien Welten entfernt.
Karol richtete sich auf. Seine Hand machte eine Bewegung durch die Luft, kurz und sehr bestimmt. Der Schatten regte sich. Dann wischte er plötzlich davon, wie eine große, schwarze Tatze, die lautlos weggezogen wurde.
Darunter schimmerte es golden.
Mina stand nicht auf.
Karol wartete; er wartete eine lange Zeit. Dann streckte er die Hand aus. Und Mina nahm sie.
Es war nicht Haut, was sie berührte. Es waren keine Knochen, die sie spürte, keine Sehnen, keine Muskeln. Nur das Gefühl, das von der Erde aufsteigt nach einem warmen, langen Sommertag. Es hielt sie fest und sicher.
Sie stand auf, ihre Füße brannten. Es waren nur wenige Schritte bis zu dem goldenen Leuchten, aber sie waren schwerer als alle Schritte, die sie jemals getan hatte. Sie humpelte, stolperte, knickte ein. Das Gefühl an ihrer Hand hielt sie.
Es war ein Schlüssel. Als sie das Schimmern endlich erreicht hatte und sich mühsam hinunterbeugte, war es ein
kleiner, verschnörkelter, goldener Schlüssel, kaum so lang wie ein Kinderfinger, der schimmerte wie eine Kerzenflamme. Oder wie der Leib des Schlangenkönigs.
Beinahe hätte sie sich abgewandt. Sie wollte ihn nicht mehr, diesen Schatz. Sein Glanz schmeckte bitter in ihrem leeren Mund. Aber ihre Finger ließen den Schlüssel nicht los, als sie ihn einmal gefasst hatten. Sie hatte zu viel für ihn bezahlt. Zu viel, um ihn der Dunkelheit zu überlassen.
Und da war etwas, was sich darum geschlungen hatte. Etwas, das nicht zu dem Glänzen passte. Mina sah genauer hin.
Eine dünne Kette. Ohne Anhänger, ohne Verzierung. Das Metall angelaufen und schäbig. Billiger Tand, wie arme Mädchen ihn trugen. Arme Mädchen, die sich an nichts mehr freuten als an Musik und Tanz …
Mina zog sie behutsam aus den Windungen des Schlüssels.
Ah … Ein Seufzen wehte durch die Nacht, und für einen Augenblick kam es Mina so vor, als forme sich in der stillen Luft das bleiche Gesicht der Tänzerin.
Marthe, flüsterte Mina lautlos.
Und eine hauchzarte Stimme antwortete hinter ihrer Stirn:
Nimm sie, Mädchen. Nimm die Kette. Nimm sie und bring sie zu den anderen, die ohne Hoffnung tanzen - den anderen, hörst du? Sag ihnen, Marthe ist frei. Marthe ist frei …
Mina stand da, den goldenen Schlüssel in der rechten, das Kettchen in der linken Hand. Dann füllten ihre Handflächen sich plötzlich mit einem sanften Strahlen. Die Schatten um sie her leuchteten auf und zerflossen wie Rauch. Sie sah Karol an. Er lächelte nicht. Aber es war in seinen
Augen, dass sie wahrnahm, wie langsam und bedächtig die Morgensonne aufging.
Ein Rauschen in den Bäumen. Ein letztes, allerletztes Wort hinter
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