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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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sind, wird es niemand sein.«
    Minas Augen schwammen wieder. Aber die Feuchtigkeit auf ihren Wangen war warm, nicht kalt. Sie zog die Nase hoch wie ein Dorfjunge, spürte das schmerzhafte Zucken in den Mundwinkeln, das ein verlegenes Lächeln hatte werden wollen. Und nickte.
    »Nun also.« Tausendschön machte ein Geräusch, als räusperte er sich. »Also gut. Sie haben ein kluges Buch, das Ihnen sagt, wie Sie ohne Worte sprechen können. Sie haben Ihr Weinen, das Ihnen Ihr Lachen ersetzen kann. Sagt man nicht bei den Menschen, sie weinte vor Freude ? Sie haben Freunde, die Sie begleiten, und einen Kater, der Ihre Dummheiten fast ohne Einsatz von Krallen korrigiert. Und wenn ich richtig gesehen habe …«
    Er zwinkerte.
    »Man hat Ihnen auch noch etwas anderes gegeben, oder nicht? Ein kleines, feines, funkelndes Etwas, zu dem Worte gehörten wie vom Nachtwind gehaucht … Wie wäre es, wenn Sie den Tatern davon erzählten? Vielleicht wissen Sie dann, wohin der Weg gehen soll.«
    Er schlug mit dem Schwanz, ungeduldig, wie es Mina vorkam. Vielleicht schwang auch ein leiser Hauch Verlegenheit
darin mit. Das Kettchen, erinnerte sich Mina; zum ersten Mal, seit sie das Tal verlassen hatten. Marthes Kettchen. Marthes Worte, leise wie ein Windhauch: Bring es zu den anderen. Den anderen? Wen konnte sie damit gemeint haben? Waren sie das nächste Ziel? Und wenn nicht sie, was dann?
    Die anderen … Tänzerinnen?
    Unsicher nickte sie. Der Kater stellte die dreieckigen Ohren auf.
    »Endlich«, sagte er und bog abrupt von ihrer Seite ab, auf das Unterholz zu. »Dann erlauben Sie jetzt, dass ich mich um mein Abendessen kümmere. Die fleischlose Kost, wissen Sie …« Er verschwand hinter einem Schneebeerenbusch. »… Sie ist nicht ganz das Richtige für mich.«
    Seine Stimme verklang. Der Regen klingelte auf den Blättern. Mina rieb sich über die Augen. Es stimmte wohl, was er gesagt hatte; wie so oft. Was hatte sie schon außer Marthes Worten, um zu wissen, welche Richtung sie jetzt einschlagen sollte? Und allein würde sie nicht herausfinden, was sie bedeuteten. Sie musste mit den Tatern darüber sprechen. Und seltsamerweise war es dieser Gedanke, der die Schwere in ihr etwas leichter machte.
    Sie öffnete ihr Bündel und zog den Selam heraus.
    Veilchenzungen, Glockenblumenohren … Noch im Gehen fing sie an zu blättern, strich mit dem Zeigefinger die schwarzen, eng gedruckten Zeilen entlang. Worte, stumme Worte. Stumme Worte für ein stummes Mädchen.
     
    Im Nachtlager, unter einem alten Baum mit so einladenden, niedrigen Ästen, dass Mina ihn bei sich den Schaukelbaum nannte, setzte sie sich neben Lilja, die ihr zulächelte,
als habe sie es nicht anders erwartet. Mina legte das Buch vor sich auf die Knie; sie hatte verschiedene Seiten markiert und sich die Reihenfolge gemerkt. Sie schlug die erste auf, legte den Zeigefinger auf die entscheidende Zeile und sah Lilja bittend an.
    Die Taterfrau ließ das Brot sinken, das sie gerade schnitt.
    »Meine Kleine«, sagte sie und schüttelte den Kopf, »ich fürchte, so wird es nicht gehen. Sie sind hübsch, die vielen schwarzen Punkte und Striche in deinem Buch. Wie ein Muster. Aber ich kann nicht lesen, was es bedeutet.«
    Mina fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie war sich so klug vorgekommen. Sie kannte zwar die meisten der Blumen und Pflanzen, die das Buch beschrieb, aus dem Garten hinter dem Gutshaus, aus Mamsells gehütetem Kräutergarten und aus dem gläsernen Gewächshaus, das der Gärtner eifersüchtig bewachte. Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie sie hier finden sollte, und ob sie überhaupt zu dieser Jahreszeit draußen wuchsen. Wie schlau hatte sie da den plötzlichen Einfall gefunden, das Buch selbst zu verwenden! Und jetzt zerbröckelte er zu einem kindischen Nichts unter Liljas bedauerndem Blick.
    Und - selbst ohne Worte gelang es ihr noch, die Menschen zu kränken und zu beleidigen. Der Kater hatte Recht. Sie war wirklich ein ungewöhnlich dummes Geschöpf.
    Aber es half nichts, sich das zu sagen. Sie zuckte die Schultern, als machte es nichts aus, ließ den Blick suchend über Bäume und Büsche schweifen.
    Sie sah keine einzige Blume. Unter den Abendschatten war alles braun und grau und grün um sie her.
    Mina seufzte; aber während sie seufzte, reckte sie das Kinn. Vielleicht war es ein winziges, hauchzartes Stückchen
von Marthe, was in ihr erwachte; die leiseste Erinnerung an das, was sie gefühlt hatte und was für einen kurzen, wilden, schmerzhaften

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