Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
sie am anderen Handrücken. Als sie hinsah, war es der Rand der verborgenen Schublade, die sich lautlos öffnete.
Mina atmete hastig aus. Das Medaillon war offen. Da lagen sie und sahen sie an, nachdenklich, versonnen. Was nun, kleine Mina, schienen sie zu denken. Warum hast du uns geweckt?
Mina blickte in die beiden Jungengesichter. Ich kann nicht schlafen, dachte es ganz von selbst in ihr, und wenn sie es ausgesprochen hätte, wäre es ein klägliches Jammern
geworden. Ich kann nicht schlafen, und ich weiß nicht, wie ich euch finden soll. Die Dinge um mich herum geschehen von allein, ich bin mitten darin und weiß nicht, was sie zu bedeuten haben. Haben sie etwas mit euch zu tun? Warum haben die roten Blumen mich nicht zu euch geführt? Warum hat die Tänzerin mir nicht erzählt, wo ihr seid? Ich gehe und gehe, und alles, was ich erfahre, ist, dass ich noch weiter gehen soll.
Innerlich seufzte sie tief.
Ich bin keine gute kleine Schwester. Ich weiß nicht einmal, was das Wort eigentlich bedeutet. Es schmeckt so fremd wie Bruder , wie Freund . Und plötzlich ist es da, und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Und wohin es mich führt. Warum sagt ihr mir nicht, wo ich euch finden kann?
Sie schwiegen; natürlich schwiegen sie. Nur der versonnene Ausdruck in ihren Gesichtern sprach zu ihr, aber er konnte alles und nichts bedeuten. Lag es an der schwachen Lampe, dass ihr die Bilder blasser vorkamen als sonst?
Irgendwo in ihrem Rücken knackte und raschelte es. Mina drückte die Schublade zu. War Tausendschön zurückgekommen? Sie wollte nicht, dass er sie so sitzen sah. Er würde wieder streng mit ihr sprechen oder sich über sie lustig machen. Es war besser, sie stellte sich schlafend.
Aber als sie die Spieluhr in das Bündel zurückschob, fiel ihr auf, dass um sie herum weniger friedliche Schatten auf dem Moos lagen, als es hätten sein sollen. Sie konnte Lilja sehen und Nad, mit Zinni zwischen sich, die Arme über ihm ineinander verschränkt. Die anderen sah sie nicht. Hatten Rosa und Viorel sich nicht dort unter dem Schaukelbaum aneinandergeschmiegt?
Stimmen kamen durch die Nacht getrieben, wie dunkle, fast lautlose Falter.
Neugier begann, in Mina zu prickeln.
Es war leichter, den leisen Stimmen zu folgen, als sie gedacht hätte. Die schwachen Laute fingen sich zwischen den stummen Bäumen, und die Ranken, die hier und da unter den Büschen lauerten, schienen zu träumen und glitten sanft von ihren Stiefeln ab. Ihre Füße protestierten, aber sie machten kaum ein Geräusch auf dem weichen, regenfeuchten Moos.
Je weiter sie schlich, desto schwächer wurde das Licht der Lampe, und desto besser gewöhnten ihre Augen sich an den fahlen Schein, der vom Himmel über den Baumkronen kam. Tropfen rieselten von Zweigen in ihre Haare, rannen ihr den Kragen hinab. Die Kühle auf ihrer Haut vertrieb den letzten Rest von Müdigkeit.
Ein-, zweimal sah sie sich besorgt um, ob sie den Rückweg noch finden würde. Liljas Lampe glomm beruhigend hinter ihr, auch wenn sie kleiner und kleiner wurde. Und die Stimmen leiteten sie weiter in den Wald hinein.
»… schon so oft gehört«, sagte eine von ihnen, klarer, deutlicher, als Mina sich an einem dornigen Gesträuch vorbeizwängte, das wie ein lebendes Wesen im Halbschlaf seine Zweige nach ihr ausstreckte. Sofort hielt sie an, atmete so flach wie möglich.
»Ich will es nicht noch einmal hören.«
Es war Rosas Stimme. Aber Mina brauchte einen Moment, um sie zu erkennen. Sie klang gepresst, ein scharfes Flüstern, das nicht zu dem heiteren Blütengesicht passte, den fröhlichen Augen, dem sanften Lächeln. Vorsichtig ließ
Mina sich auf die Knie sinken und spähte an den Sträuchern vorbei.
Rosa hatte ihr den Rücken zugekehrt. Und nicht nur ihr. Im tieferen Schatten unter einem Baum mit hängenden Zweigen sah Mina schwach eine größere, breitere Gestalt. Ihr Herz klopfte in ihren Ohren. Viorel hatte beide Arme nach Rosa ausgestreckt.
»Ich weiß ja«, sagte er, und seine seidenweiche Stimme rann kühl und kitzelnd wie Wassertropfen über Minas Haut. »Komm, Rosa, ich weiß es ja, es war nicht recht. Sei wieder gut, meine Schöne. Meine liebe, meine gute Rosa. Es war doch nicht viel. Nur ein kleiner Kuss.«
Es sah kläglich aus, wie er immer weiter die Arme ausstreckte und den Kopf hängen ließ. Kläglich und sonderbar komisch. Vielleicht lag es auch an dem spielerischen Klang in seiner Stimme, dass Minas verlorenes Lächeln sie in die Wangen kniff. Er
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