Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Erinnerung zu rufen, wie die Mädchen zu Hause redeten, wenn sie unter sich waren. Brutsee … Brut … Lina fiel ihr ein, die eine frühere Frieda gewesen war; bis sie den Gärtner aus dem Nachbargut kennenlernte und sich in ihn verliebte. Die Mutter hatte sie ungern ziehen lassen, sie war anstellig gewesen. Wie hatte sie zu den anderen gesagt, draußen vor der Küchentür, als sie sich verabschiedete?
»Denn bün ick ook eene Brut in’t sieden Kleed.«
Eene Brut in’t sieden Kleed … eine Braut im seidenen Kleid …
Kummer stieg in Mina auf, klar und kalt. Es gab nur eines, was Brautsee bedeuten konnte.
Sie dachte an das dünne, billige Kettchen in ihrem Bündel, sorgsam zusammengerollt. Ein Auftrag war daran geknüpft, auch wenn sie nicht darum gebeten hatte. Ein Auftrag, oder vielmehr - ein letzter Wunsch, in die aufgehende Sonne geflüstert. Und sie war die Einzige, die ihn gehört hatte. Die Einzige, die ihn erfüllen konnte.
»Willst du wirklich dorthin gehen?«, fragte Lilja noch einmal und sah Mina forschend an.
Mina nickte nicht. Sie erwiderte nur den Blick, fand sich selbst schwach und unscharf in Liljas dunklen Augen gespiegelt. Da war sie, klein und hilflos. Ein fortgelaufenes Mädchen mit wirren Haaren und Grashalmen anstelle von Schnürsenkeln. Ein dummes Geschöpf mit einem Kopf voller Flausen. Da war sie, sie selbst, bloß und ganz. Doch in der Dunkelheit von Liljas Augen strahlte sie heller als ein Stern.
»Ja«, sagte Lilja schließlich langsam, »ja, das willst du wohl.«
Auch in dieser Nacht fand Mina nicht viel Schlaf. Sie besserte eine Stunde lang die schlimmsten Risse in ihrem Kleid mit Liljas bunten Stoffresten aus; es sah nicht so schrecklich aus, wie sie befürchtet hatte, eher wie eine Art Muster. Und die geflickten Stellen schienen weicher und leichter zu sein als der schwere Taft um sie herum.
Danach versuchte sie, im Schein der kleinen Lampe im Selam zu lesen, der Regen hatte nachgelassen und sich schließlich vor der aufziehenden Nacht in den Wolken verborgen. Ihre Gedanken verirrten sich zwischen den Worten im Buch, und sie legte es bald beiseite und rollte sich unter ihrem Mantel ein. Aber sie konnte nicht zur Ruhe kommen. Die Füße taten ihr immer noch weh, trotz der Salbe, sie wusste kaum, wie sie sie hinlegen sollte. Marthes Schatten trieb durch ihre Gedanken, und der Brutsee tat sich im Finstern vor ihren Augen auf, schwarz und stumm.
Auch der Wald schien nicht ruhig zu schlafen. Immer wieder war es ihr so, als raschelte es lauter als sonst zwischen den Zweigen, als bewegten sich Äste in einem Wind, der nicht wehte. Mina schloss die Augen und befahl sich, nicht darauf zu achten; aber sie wagte es nicht, die Lider zu fest zusammenzupressen, aus Angst, sie könnte den Wald versehentlich dadurch verschwinden lassen. Noch immer hatte sie nicht versucht, wie es war, in die andere Welt zurückzugehen. Stattdessen schien sie sich mit jedem Schritt, den sie tat, weiter von ihr zu entfernen.
Sie gab es schließlich auf, sich zum Schlafen zwingen zu wollen, schlang den Mantel eng um ihre Schultern und setzte sich auf. Die Tater waren nicht mehr als friedliche Schatten um sie her. Keiner der dunklen Schemen regte sich, als sie die Haare aufschüttelte und nach hinten strich -
wie ungewohnt es war, dass sie ihr immer wieder ins Gesicht fallen wollten. Und wie weich die Strähnen dabei über ihre Stirn strichen. Es kitzelte, man musste wohl erst einige Übung entwickeln, um damit zurechtzukommen.
Sie drehte die Haare zu einem lockeren Knoten zusammen, den sie hinten in den Mantelkragen schob, und griff dann nach dem Bündel. Ihre Finger zuckten zurück, als sie den kleinen Schlüssel berührten; gleich daneben lagen die vertrauten scharfen Kanten der Spieluhr. Sie klirrte leise, als Mina sie herauszog und vor sich ins Moos stellte.
Guten Abend, sagte sie in ihrem Kopf, und in ihren Wangen ziepte es, als sie über den Unsinn kichern wollte, der in diesem Gedanken lag. Trotzdem dachte sie es noch einmal - Guten Abend -, bevor sie den Deckel öffnete. Im Licht der kleinen Lampe war der Samt schwarz wie Pech.
Sie strich mit dem Finger darüber. Da war die kleine Vertiefung, hinten in der Ecke, das schwache Muster, das der Schmuck hineingepresst hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie es bedauerte, dass sie hier kaum eine Haarnadel finden würde, um das Geheimfach zu öffnen. Trotzdem nahm sie den Finger nicht weg. Es knirschte leise in dem kleinen Kasten, und etwas berührte
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