Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
uns vier Wachen einteilen.“
„Weißt du, wie man auch im Schlaf jeden Atemzug zählt, ohne bewusst darüber nachzudenken?“, fragte Milla.
„Äh, nein“, gab Tal zurück. „Aber was macht das…“
„So messen wir die Zeit, wenn wir keinen anderen Anhaltspunkt haben“, erklärte Milla in einem Ton, als würde sie mit einem sehr kleinen Kind reden. „Ich werde dich wissen lassen, wann deine Wache beginnt und wann sie zu Ende ist.“
Dem hatte Tal nichts entgegenzusetzen. Er versuchte, unbemerkt seine Atemzüge zu zählen, kam aber immer wieder aus dem Rhythmus. Insgeheim verdächtigte er Milla, dass sie es auch nicht konnte und dass sie nur einmal mehr versuchte, ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
Es war ein kaltes und gefährliches Lager. Direkt neben der Straße war ein Steilhang. Sie legten ihre Rucksäcke gegen die Felswand auf der anderen Seite und Tal sagte sich dreißigmal: Ich darf nicht schlafwandeln.
Es dauerte lange, bis Tal einschlief. Der Wind heulte den Berg hinab und schien Tal und Milla mitnehmen zu wollen, hinunter zum Ruinenschiff. Hier oben war es noch kälter als auf dem Eis und Tal ertappte sich dabei, wie er näher und näher an Milla herankroch, um warm zu bleiben.
Für Milla schien das ganz normal zu sein, Tal hingegen fand diese Nähe – wenn auch durch Felle getrennt – beunruhigend. Er war einem Mädchen noch nie so nahe gewesen, ganz zu schweigen von einem, das ihn töten würde, wenn er im Traum versehentlich seinen Arm um sie legte.
Dieser Gedanke half ihm nicht gerade beim Einschlafen. Genauso wenig wie die Geräusche, die er nachts hörte – oder glaubte zu hören. Auch Milla setzte sich während ihrer Ruhezeit hin und wieder auf und horchte. Manchmal fragte sich Tal, ob sie überhaupt schlief. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie es mit einem offenen Auge tat.
Die mittlere Wache schien ewig zu dauern. Tal wollte herausfinden, ob Milla schlief. Er lehnte sich von ihr weg und sie rührte sich nicht. Also rutschte er noch ein wenig weiter weg. Sie sank in ihre Felle zurück und Tal lächelte. Sie schlief wirklich.
Er streckte die Hand aus und kitzelte sie an einer kleinen Stelle am Hals, wo ihre Haut zwischen der Maske und dem Kragen sichtbar war. Er hatte das oft mit Gref gemacht: seinen Fingernagel langsam wie ein Insekt über ihn wandern zu lassen, um zu sehen, wie lange Gref brauchte, um aufzuwachen.
Seine behandschuhten Finger waren gerade dabei, Millas Kinn zu berühren, als ihre Hand unter dem Fell hervorschoss. Blitzschnell hatte sie ihr Messer ungefähr an die gleiche Stelle an Tals Kinn gesetzt. Einen Moment sahen sie sich regungslos an, dann zog Tal langsam seine Hand zurück. Milla tat dasselbe.
„Zweihundertfünfundsiebzig Atemzüge“, sagte Milla. „Ich weiß selbst, wann ich an der Reihe bin.“
Tal war für den Rest seiner Wache überaus wach. Doch als Milla wieder an der Reihe war, überfiel ihn sofort der Schlaf.
Als sie ihn irgendwann wachrüttelte, hatte er dennoch das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Sie standen auf und gingen weiter. Der Aufstieg war jetzt schwieriger, da ein großer Teil der Straße von Lawinen zerstört worden war. An ein paar Stellen war der Berg einfach abgerutscht. Sie mussten ihre Schuhe mit den zahnbesetzten Kieferknochen von Wreskas aufrüsten und steile Eishänge hochsteigen. Sie schlugen Knochennägel – so genannte Pitone – mit einem runden Stein von der Größe einer Faust in den Fels.
Milla war eine geübte Kletterin. Tal nicht. Doch er hatte seinen Schattenwächter als Helfer, wenn er auch versuchte, ihn nicht so oft einzusetzen. Er wollte nicht, dass Milla dachte, er wäre von seinem Schatten abhängig.
Tals größte Schwierigkeit bestand darin, dass er nichts sehen konnte. Beim Klettern mussten sie die Mottenlaternen auf den Rücken schnallen und so fiel das meiste Licht hinter sie.
Noch schlimmer wurde alles, als es zu schneien begann. Die ersten beiden „Tage“ (nach Millas Schätzung) waren kalt, aber klar gewesen. Doch während der zweiten Schlafperiode setzte plötzlich heftiger Schneefall ein. Es war eine solche Masse an Schnee, dass sie in der Ebene gereicht hätte, um sie beide zu begraben.
Auch am dritten Tag hielt der Schneefall an. Und gerade als Tal kurz davor war einzuschlafen, wurden die Schneeflocken zu einem unangenehmen Schneeregen, der in dichten Vorhängen fiel und die Felle der beiden sofort durchnässte. Glücklicherweise blieben die Unterfelle trocken
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