Der siebte Turm 03 - Aenir - Reich der Schatten
und in der Entfernung sah sie Vögel. Kleine Vögel, die hektisch um die Hecken herum flatterten.
„Bist du dir sicher?“, fragte Odris. „Ich sehe einen Teich nicht weit da drin im Garten und ich brauche unbedingt Wasser.“
„Ich weiß nur, dass es dort nicht sicher ist“, sagte Zicka. „Vielleicht kennt der Kodex das Geheimnis des Gartens. Oder das Orakel. Oder der Weise Khamsoul. Da wir jetzt gerade keinen von ihnen fragen können, würde ich vorschlagen, dass wir diesen Ort meiden.“
„Aber ich muss wirklich dringend etwas trinken“, quengelte Odris. „Kann ich nicht wenigstens ein bisschen nach dort drüben fliegen?“
„Nein!“, ordnete Milla an. Zicka hatte bewiesen, dass er über die Gefahren des Dämmerhauses Bescheid wusste. Also ging Milla auch davon aus, dass er sich mit dem Garten auskannte. „Ich muss auch etwas trinken, aber es ist es nicht wert, unser Leben zu riskieren.“
„Ich wette, dass nur die Kreaturen etwas zu befürchten haben, die auf dem Boden gehen“, sagte Odris missmutig. „Seht euch die Vögel an. Sie scheinen völlig ungefährdet zu sein.“
„Es sind Lockvögel“, sagte Zicka mit einem bedeutungsschweren Unterton und begann an der Baumlinie entlang zu gehen. Er kümmerte sich nicht darum, ob die anderen ihm folgten.
Milla ging ihm sofort nach. Odris zögerte. Sie warf noch einen letzten Blick auf den Teich, der gleich hinter der ersten Hecke lag. Er sah beinahe zu perfekt aus, dachte sie schaudernd und folgte Milla.
Sie gingen lange Richtung Norden. Die Sonne stand beinahe senkrecht über ihnen, als sie schließlich an einen breiten Fluss kamen. Er war mehr als hundert Spannen breit und markierte die nördliche Grenze des grauen Waldes und des Gartens. Jenseits des Flusses lag eine steinige Landschaft voller vom Regen ausgewaschener Löcher und Steinterrassen.
„Hier kann man gefahrlos etwas trinken“, sagte Zicka. „Außerdem habe ich etwas zu essen an Bord meines Schiffes. Für jemanden von deiner Größe ist es allerdings nicht viel, Milla…“
„Jede Nahrung ist mir willkommen“, unterbrach sie ihn. „Aber wo ist dein Schiff?“
Zicka zeigte auf eine Stelle am Flussufer. Einen Moment erkannte Milla nicht, was er meinte. Dann wurde ihr klar, dass das Schiff der halb untergegangene Baumstamm sein musste, der da im flachen Wasser am Ufer lag.
„Das ist ein Schiff?“, fragte Odris. Sie brauchte nicht auszusprechen, dass es vielmehr wie ein Stück Treibgut aussah, das der Fluss angeschwemmt hatte.
„Los“, sagte Zicka stolz. „Ich werde es euch zeigen. In unserer Sprache heißt es ,Roquollollollahahinanahbek‘, was in der gemeinsamen Sprache so viel heißt wie ,Das Feuer vieler Sonnen auf dem ersten Blau tiefen Wassers‘. Es ist ein Erbe unseres Volkes, ein Geschenk aus uralten Zeiten.“
„Es ist ein Stamm“, flüsterte Odris Milla zu. „Ein Stück von einem Baum. Das Kurshken ist verrückt geworden.“
„Schweig!“, ordnete Milla an.
Die Echse sprang zu dem Stamm hinunter und lief darauf entlang. Milla blieb am Ufer stehen. Ein Ende des Stammes war unter Schlamm und Erde begraben. Es gab keine Möglichkeit, diesen Stamm aus dem Wasser zu ziehen, um vielleicht ein Floß daraus zu machen.
Dann beugte sich Zicka hinunter und tauchte seinen Kopf ins Wasser. Blasen stiegen auf und Milla hörte ein gurgelndes Geräusch.
Das Kurshken sprach unter Wasser.
Einen Moment war Milla mit Odris einig. Das Kurshken war verrückt.
Doch der Moment ging schnell vorüber. Als Zickas Kopf wieder auftauchte, begann sich das Wasser weiter draußen zu bewegen. Dort, wo es gerade noch ruhig gewesen war, schlugen jetzt Wellen hoch.
Ein Mast schoss aus dem Wasser, gefolgt von einem geschnitzten Bug und Heck und dann einem kompletten Schiff. Das Wasser floss davon ab, als sich der Bug Richtung Ufer drehte, dorthin, wo Zicka wartete.
Milla starrte fassungslos das Schiff an. Es war – abgesehen von der fehlenden Besatzung – das exakte Abbild eines kleinen Eiscarl-Schiffes, das Orskir genannt wurde. Schwert-Thanen hätten diese Art von Drei- oder Viermann-Schiffen benutzt, oder eine Botin der Schildjungfrauen. Sogar die Gravuren an Bug und Heck waren ähnlich: Bogen und Kurven, die Wolken und Wind darstellten.
Sein Rumpf war weder aus Knochen noch aus Holz, wie man es in dieser Welt vielleicht erwartete. Er war aus dem gleichen tief goldfarbenen Metall, aus dem auch das Ruinenschiff bestand. Und es war über und über mit hunderten von Sonnensteinen
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