Der Sieg nach dem Krieg
gelegentlich beim Sprechen den Atem sah. Die Brotlaibe aus der jeweiligen Zuteilungsperiode lagen um ein großes Messer gruppiert auf einem kleinen Tisch neben dem Eßtisch und waren durch archaisch anmutende Kerbzeichen gegen Verwechslung gesichert. Trotzdem schrumpften sie schneller als wir aßen. Mit der Zeit fiel das auf. Unausgesprochener Verdacht schwelte über dem Tisch. Wer zum Essen kam, griff als erstes sein Brot und betastete die Schnittstelle. Fühlte sie sich frisch an, sprach er höflich-befremdet beiseite: »Hier muß sich jemand im Brot geirrt haben .«
»Bei mir auch«, bestätigte ein anderer. »Das kommt neuerdings öfter vor .«
»Zwei Kerben nebeneinander sind mein Zeichen«, ließ sich ein dritter Gast vernehmen, nicht mahnend, nur zur Gedächtnisstütze.
Während der Mahlzeit gab man durch Blicke seine Unschuld zu erkennen. Da nicht alle mitblickten, konzentrierte sich der Verdacht auf eine alte Dame. Alsbald lauerten außerhalb der Essenszeiten Brotspione hinter Gardinen. Und richtig. Die Verdächtigte konnte auf frischer Untat ertappt werden.
Kühl, mit beleidigtem Unterton sagte sie: »Das tut mir leid. Ich bin nun mal schrecklich kurzsichtig .«
Mit diesem Einfall wog sie ihren Frevel, der sich, grob geschätzt auf ein Kilo Brot belaufen mochte, auf. Niemand verlor mehr ein Wort darüber. Bei der nächsten Mahlzeit redeten wir, worüber wir meist beim Essen redeten — übers Essen.
»Ré hat sich Fleischmarken besorgt«, berichtete jemand über den allseits geschätzten Maler. »Für zehn Kilo.« Ähnlich bewunderndes Schweigen wäre heute mit dem Kauf einer Insel nicht mehr hervorzurufen.
»Gibt’s gar nicht auf einer Lebensmittelkarte«, unkte schließlich jemand und wurde belehrt.
»Ist ja auch ein Schwarzdruck! Ein Bogen voll mit 100- Gramm-Abschnitten, ohne Behördenetikett, nur Fleisch.« Überlegungen wurden laut.
»Soviel kriegt er gar nicht in einer Metzgerei .«
»Was mag er dafür bezahlt haben ?«
»Wenn er’s sich hundertgrammweise zusammenkauft, fällts nicht auf .«
Der Berichter lachte. »Da kennst du Ré schlecht! Schnurstracks ist er in seine Metzgerei, an der Schlange vorbei und hat den ganzen Bogen der Chefin hinübergereicht und gesagt: >Richten Sie’s mir bitte her. Halb Kalb, halb Schwein. Ich hol’s mir heut abend ab .<
Vor Schreck ist da der Metzgerin der existenzgefährdende Satz rausgerutscht: >Aber Herr Großmann, die sind ja alle falsch !< — Worauf er strahlend verkündet hat: >Ja, meinen Sie, ich geb’ Ihnen die echten? Dazu kennen wir uns doch zu gut !<
Der ganze Laden hat schallend gelacht; man hielt das selbstverständlich für einen Scherz. Ré ist abends hin und hat sein Fleisch bekommen. Acht Kilo!«
Womit bewiesen wäre: Die freie Marktwirtschaft begann schwarz.
In diesem großzügigen Haus übernachteten gelegentlich Freunde der Familie oder wurden zum Essen eingeladen, wenn sie aus der näheren Umgebung für einen Tag in die Stadt kamen. Bei Logis erhob sich die Frage, wen man zu wem legen konnte und auf was. Abgewiesen wurde niemand, alle Welt wohnte privat. Von den 300 Hotels mit 8000 Betten aus der Vorkriegszeit hatten die Alliierten ungefähr 50 mit 500 Betten übriggelassen, die verständlicherweise immer belegt waren. Gewiß hätten amerikanische Zigaretten Reservierungen ermöglicht, doch wer Freunde in der Stadt hatte, der suchte sie auf und blieb lieber dort, schon um zu reden, um sich zu informieren. Die Menschen brauchten Menschen, denen sie trauen konnten.
Margit Defregger, die Dame des Hauses brachte nicht nur das Kunststück fertig, ihr gerettetes Porzellan zu zeigen, sondern auch jedem einen gefüllten Teller zu präsentieren. Nicht nach Art der Zeit gefüllt, sondern reichlich. Sie hatte Spezialgerichte erfunden, die sich offenbar beliebig dehnen ließen, eines vor allem, das wegen seiner ungewöhnlichen Länge auf der größten Fischplatte serviert wurde. Es machte nicht nur optisch etwas her — man aß ja überproportional mit den Augen — es stopfte auch mit erstaunlicher Langzeitwirkung die Mägen. Trotz dieser hervorragenden Eigenschaften hat ihm niemand einen Namen gegeben. Es sei wenigstens beschrieben: der Begriff Roulade kommt wohl am nächsten. Eine Riesenwurst aus Teig, ein Monsterpfannkuchen, nicht unbedingt mit Ei, doch mit Mehl und erschwinglichen Bindestoffen. Diese ausgewalzte Angelegenheit vom Durchmesser eines Bistrotischs wurde mit Füllung bestrichen — nicht unbedingt Hackfleisch, mehr
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