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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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etwas zu werden, das jahrelange Training mit Befehlen, Willkür, Katastrophen zu leben, hatte uns Unbekanntem gegenüber leichtherziger gemacht. Mangels anderer Möglichkeiten nahmen wir, was kam, sportlich. Irgendwie ging’s dann auch.
    Die gängigen Schwierigkeiten, in diesem Fall, wie wir hinkamen, wo wir wohnten, was wir aßen, wie oft wir froren, werden von der Erinnerung nicht mehr freigegeben. Allenfalls noch Schlemmereien oder komische Begebenheiten im Zusammenhang mit dem damaligen Hauptthema, dem Essen.
    Gegessen wurde auch auf der Bühne. Ungeachtet der Zeiten hatte Hermann Schultze-Griesheim, Regisseur und Ehemann der »Birke«, wie sie in Schauspielerkreisen genannt wird, ausgerechnet ein Glas Marmelade an einer besonders dramatischen Stelle eingebaut. Daraus naschten die beiden Darsteller abwechselnd und vom selben Löffel, zur optischen Ankündigung beginnender Intimität. Ich hielt das Glas stets unter Verschluß und mich selbst zurück. Als ich es in Landsberg während der Pause in die Dekoration auf seinen Platz stellen wollte, war es leer. Eine Katastrophe. Wie sollten die beiden die sorgfältig geprobte Tändelei überbrücken? Woher nachts Marmelade nehmen? Die gab’s ja schon bei Tag nicht.
    Es blieben ungefähr fünfzehn Minuten, in denen weder Ziehharmonikaspiel, noch Stimmen oder Geräusche aus dem Haus anfielen. Mit dem klebrigen Glas stürzte ich mich als männliches Mädchen für alles ins stockdunkle Landsberg. Wenn ich Glück haben sollte, dann mußte es in nächster Nähe zu finden sein. Vielleicht bei dem matten Licht schräg gegenüber. Der Fall mit der Tür ins Haus endete glimpflich. Leider nicht für das Marmeladenglas.
    Derart dicht beim Einlaß darf seit Erfindung der Baupolizei keine Treppe mehr beginnen! Seltsam, mit welch unnötigen Gedanken das Unterbewußtsein Eile erträglicher zu gestalten trachtet.
    Oben im dunklen Flur eine Lichtritze. Die Hand findet die Klinke, drinnen sitzt eine umfangreiche Familie beim Essen und vernimmt, ohne zu erschrecken, den Notruf: »Kinder, entschuldigt, wir brauchen dringend Marmelade für den zweiten Akt. Ihr kriegt morgen alle Freikarten .«
    Es war Samstagabend, das Versprechen keine Notlüge. Sonntagnachmittagsvorstellungen pflegen nicht unbedingt vor Fülle zu strotzen, und Überraschungen der milden Sorte haben gerade in schlechten Zeiten durchaus ihren Reiz. Die Familie zeigte sich mit dem Kulturangebot einverstanden, eine Tochter brachte das Gewünschte, Selbsteingemachtes mit Stoffhäubchen von einem Bändchen gehalten. Die Kostbarkeit wie ein Porzellanexperte fest in beiden Händen haltend, voll Dank, Kartenlieferung zusagend und warnend: »Vorsicht, drunten liegen Scherben !« verschwand ich offenbar gutartiger Irrer.
    Auf der Bühne waren die Tageszeiten der Liebe bis zum mittleren Nachmittag vorgedrungen. Eine Stimme aus dem Haus wurde fällig, eine kurze musikalische Untermalung, dann würde sich das Spiel zum Gartentisch verlagern, wo das Glas mit Marmelade stehen sollte, aber noch nicht stand. Ich suchte nach einer Latte hinter der Bühne, um es diskret hinauszubefördern, scheiterte damit aber ebenso, wie an der Möglichkeit, es mittels psychokinetischer Konzentrationskraft selbständig auf treten zu lassen. Verzweifelt sah ich mich um. An einem Balken neben dem Vorhangzug hing in dem uralten Bau ein schwarzes Schäfercape, darüber ein wallender Bart mit Gummiband, sowie ein Schlapphut. Ein schulterhoher Hirtenstock lehnte daneben.
    Da sich das ganze Stück im Garten abspielte, könnte ein Weg vorbeiführen, überlegte ich, ein öffentlicher Weg und, dramturgisch vertretbar, auch begangen werden. Beginnendes Liebesspiel durch Passanten zu unterbrechen, gilt ja als spannungssteigernd. Obendrein bildete der klapprige Schäfer zu den Liebenden, im Vollsaft ihrer physischen Möglichkeiten eine hübsche Allegorie der Vergänglichkeit. Daß er bemitleidenswert hinkte, lag weniger an meinem unterentwickelten Darstellungstalent, sondern hing mit dem ungewohnt schrägen Bühnenboden zusammen. Solche Böden waren im 18. Jahrhundert der Perspektive wegen üblich.
    Mancher Zuschauer mochte den Alten für einen Bettler halten, der sogleich um eine milde Gabe bitten würde. Doch er wollte nicht nur nichts, er brachte vielmehr etwas, das er, fürs Publikum unsichtbar, unter seinem Mantel hervorzog, auf den Tisch stellte und sich dann trollte.
    An diesem Abend dehnte sich die Tändelei zur Überlänge. Die neue Marmelade schmeckte

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