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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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wesentlich besser als die alte. Gewiß, der Zwischenfall war nicht weit entfernt von sogenanntem Schmierentheater. Doch das versuchte ursprünglich auch nichts anderes, als Nöte in Tugenden umzumünzen, damit das Stück weitergehe. In diesem Fall hat die Marmelade zu einem festen Engagement geführt.

Tantal-Girlanden

    E s ging aufwärts, langsam aber stetig. Man merkte es nicht unbedingt im Kochtopf, doch an allerlei nicht Eßbarem. Eine Straßenbahnlinie wurde wieder in Betrieb genommen, ein Kino eröffnete, es gab plötzlich Zeitungen, wenn auch zunächst von der Stärke eines Extrablatts, und sogar Statistiken gab es schon wieder — für ein Beamtenland deutliches Zeichen von Gesundung. Eine dieser Statistiken stellte das Durchschnittsgewicht der Bevölkerung fest:
    Männer zwischen 20 und 39 Jahren 64,41 Kilogramm
    Frauen zwischen 20 und 39 Jahren 54,84 Kilogramm
    Männer zwischen 40 und 59 Jahren 59,08 Kilogramm
    Frauen zwischen 40 und 59 Jahren 50,08 Kilogramm
    Männer über 60 Jahre 59,37 Kilogramm
    Frauen über 60 Jahre 50,37 Kilogramm
    Amtlich lapidar wurde nur bei älteren Personen eine geringfügige Unterernährung festgestellt. Daß es in dieser Zeit keine Magengeschwüre gab, hätte in eine andere Statistik gehört und blieb daher unerwähnt.
    Immerhin, keiner hungerte, ohne zu frieren. Wenn trotzdem eigentlich niemand erfroren ist, dann dank der Behörden. Die Amtsstuben glichen Wärmestuben, in denen man sich nicht nur aufhalten konnte, sondern mußte, tagelang, wochenlang, mantelfrei. Parteienverkehr heizt ja auch. Mein Wintermantel bedeckte zwei Schultern, die ich nicht kannte. Die dazugehörigen langen Finger hatten ihn gegriffen, in einer Amtsstube, während ich im Papierkrieg, der noch lange nicht zu Ende war, meinen Mann stand. Glücklicherweise besaß ich einen zweiten Mantel. Der war zwar etwas kurz und hatte keine Ärmel. Kleinlich betrachtet bestand er aus zwei zusammengenähten Shawls, doch ich verlängerte ihn, indem ich die Schultern hochzog, die Hände mit durchgedrückten Ellbogen in die Hosentaschen gestemmt — bei Kälte eine durchaus natürliche Reaktion. Der einzige Mantelfreie war ich ohnehin nicht. Vor allem die Amerikaner trugen keine Mäntel oder nur selten. Sie bevorzugten kurze Wege. Vom überheizten Club ins überheizte Auto, in die überheizte Dienststelle. Das Siegerpolster zwischen Uniform und Rippen wärmte sie ausreichend.
    Schließlich ging es auch mit der Jahreszeit aufwärts. Die Sonne übernahm die Heizung der Räume. Bei meinem Zimmer allerdings nicht vor Mariä Himmelfahrt. Eigentlich paßte die Bezeichnung Unterkunft besser, oder nur Kunft, zu drei Vierteln unter der Erde. Ich schätzte meine Kunft nach dem altgriechischen Motto: Wer gut verborgen war, hat gut gelebt. Abends hätte es ohne die Geselligkeit im Haus etwas ungemütlich sein können.

    War der Abzug des Ofens verstopft, hatte sich das letzte Stück Holz, Torf oder Brikett in Asche aufgelöst, heizte man in unserer Clique mit Boris. Man suchte den immer Heiteren, immer Hilfsbereiten auf und erfuhr Tröstliches. Überlebensprobleme, die sich technisch lösen ließen, waren für ihn keine. Boris löste so ziemlich alles technisch und sei es auf dem Tauschweg.
    An manchen Nachmittagen glich sein extrem längliches Zimmer einer Wärmestube für Freunde. Das korridorhafte Raummaß war nicht Zufall, sondern Absicht. Es hing mit seiner Erfindung zusammen. Diese beruhte auf der seltsamen physikalischen Formel: Wärme = Länge. Und zwar doppelt. Wärme, von amerikanischen Graden, durchzog sein Zimmer fühl- und sichtbar. Im Durchhang den Tragseilen der Golden-Gate-Brücke vergleichbar, schwangen sich zwei dunkelrot glühende Drähte über den Köpfen von einem Ende zum andern.
    »Wie simpel !« dachte der Besucher, schon entschlossen, sein schwaches Elektroöfchen zu zerlegen und die Heizspirale als Wäscheleine aufzuhängen.
    »So einfach ist das nicht !« schränkte Boris ein, der mit kurzem Blick den Gedanken erriet. Ein normaler Kupferdraht beispielsweise müßte fünfzig bis hundert Meter lang sein, um die vorhandene Spannung überhaupt aufzunehmen, ohne durchzuglühen — erfuhr der Besucher. Was er hier in elegantem Schwung hängen sah, war nicht irgend etwas , vielmehr ein Produkt mit besonderen Eigenschaften, nämlich TANTAL-Widerstandsdraht.
    Aus begründetem Mißtrauen gegen Hitlers Feldherrenkünste hatte sich der umsichtige Schwabe rechtzeitig eine Rolle besorgt. Tantal lieferte auf soundsoviel

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