Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
Vom Netzwerk:
Zentimeter soundsoviel Ohm. Man konnte daher berechnen, wie lang die Leitung im Verhältnis zum Kubikinhalt des Raumes sein mußte, um ein angenehmes Klima zu schaffen. Ein weiterer Vorteil des Tantal-Drahtes bestand in dem niedrigen Stromniveau, auf dem er dank ausgedehnter Oberfläche wärmte. Die Sicherungen sprachen noch nicht einmal an. Nach solchem Schnellkurs in Krisenmanagement blieb dem Besucher die kleinlaute Frage, ob er in seiner Eisdiele mit Boris als Drahtzieher rechnen könne. Boris versprach’s nicht nur, er kam auch, ohne die freundschaftliche Geste mit Bedingungen zu verknüpfen. Die Zahl der Tantal-Verwöhnten reichte bis zum Ende der Rolle.
    In der heure bleue gemütlich unter dunkelroten Tantal-Girlanden beim Tee zu sitzen, bedeutete Luxus und ästhetischen Reiz zugleich. In dieser Geborgenheit fiel es leichter, sich die Schritte zu überlegen, die nötig waren, um den nächsten Tag zu bestehen.

Höhere Töchter

    N icht nur räumlich waren die Familien zusammengerückt. Sie hielten auch zusammen, obgleich die Dauernähe manchmal an den Nerven sägte. Auf Grund ihrer Zugehörigkeit fühlen sich Verwandte berechtigt, in Töpfe und Betten zu schauen und einander dreinzureden. Sie tun dies ganz natürlich und denken sich nichts dabei. Hinzu kommt das Altersgefälle. Die Senioren der Sippe verteidigten ihren Lebensstil, ihre Anschauungen; die Jüngeren fanden beide überholt. Sie schwiegen oder schwindelten. Die mittlere Generation wollte beide Seiten verstehen und versuchte auszugleichen. Auch das war ohne Schwindeln und Verschweigen nicht zu bewerkstelligen.
    Wer einem auf die Nerven fiel mit dem, was er sagte, wurde um des Friedens willen hintergangen, wie dies zu allen Zeiten in den Familien Brauch ist. Neu war vielleicht, daß man den Nächsten zu seinem Besten hinterging.
    Da hielt eine Tochter eine mit Edelsteinen besetzte Tabatière versteckt, die der Großvater seinerzeit von König Ludwig II für besondere Verdienste geschenkt bekommen hatte. Seit dem Zusammenbruch war das gute Stück angeblich verschwunden. Jetzt brach das brave Mädchen die Brillanten heraus und tauschte sie auf dem Schwarzen Markt gegen Zigaretten, um ihren vom Tabak abhängigen Vater an seinem Geburtstag damit zu überraschen. Das Familienstück selbst veräußerte sie nicht. Später konnte sie neue Steine einsetzen lassen und es dann zufällig wiederfinden. Ein braver Sohn tauschte heimlich Silber gegen Speck und Butter, um die kränkelnden Eltern zu kräftigen. Krisen erschließen Möglichkeiten, die in normalen Zeiten als bedenkliche Delikte angesehen würden. Mancher hat sich schweren Herzens von einem Stück getrennt, das ihm nicht selbst gehörte, einfach weil es weitergehen mußte. Später einmal würde man’s beichten. Nur allzu oft blieb es bei dem Vorsatz. Wozu dran rühren, wenn alles längst anders war?
    Bei Familienfesten wurde besonders üppig geschwindelt und vertuscht. Insbesondere wenn es sich um einen Altvorderen drehte, der das Ende der großbürgerlichen Welt nicht wahrhaben wollte und im engeren Kreis laut davor warnte, die guten Sitten verkommen zu lassen. Das bessere Deutschland müsse durch Haltung repräsentiert werden, gerade jetzt, insbesondere gegenüber dem Sieger. Weil sich das so gehört. Und die Töchter sollten einmal rein vor den Traualtar treten.
    Steinerne Mienen bei den Jugendlichen nahm er als Beweis für die Kraft seiner Worte und die Gültigkeit seines Weltbildes. Widerspruch gab es noch nicht. Ein paar Stunden lang erholte sich die Verwandtschaft im zusammengemogelten Schein besserer Zeiten.
    Die Vorbereitungen gipfelten in drei Fragen: Was besitzt man noch, um es mitzubringen? Was Kat man anzuziehen? Wie kommt man hin? Die Alten hatten sich vor den Bombenangriffen aufs Land abgesetzt, dort saßen sie noch, evakuiert ins Gestern. Vielleicht nicht weit von der Stadt, nur leider allzu weit vom nächsten Bahnhof.
    Wie ein Wink des Schicksals, der helfen sollte zu begreifen, daß nichts mehr so war wie früher, ertrank der Festtag im Regen. Ein junges Mädchen, in der Stadt allein auf sich gestellt, lief zum Bahnhof und fuhr bis zur nächstgelegenen Station. In seinem besten Kleid — möglicherweise aus einer Flügeldecke — unterm Trenchcoat, rosig und empfangsbereit für das große Glück, stand es dort am Randstein. Was jetzt?
    Wie ein böser Bube, der in Pfützen stampft, so daß es nach allen Seiten spritzt, holperte ein guter Bube daher, mit seinem Jeep. Er sprach nur das,

Weitere Kostenlose Bücher