Der Siegelring - Roman
Bäche und Flüsse entlang und bergen unsere heiligen Quellen.«
»Du liebst dein Land, und so wie du es beschreibst, muss es deinem Charakter sehr ähnlich sein.«
»Wegen der schroffen Klippen?«
»Wegen der schützenden Buchten und der geheimnisvollen Quellen.«
»Dominus, Ihr seid ein Dichter.«
»Nein, das bin ich gewiss nicht. Und, Annik, warum redest du nach wie vor so förmlich mit mir? Du bist mir näher gekommen als viele andere Menschen.«
»Vielleicht, Valerius. Aber diese Nähe wird nur zu bald wieder Distanz werden. Wenn der Tag anbricht und Eure Diener, Eure Freunde und möglicherweise auch Feinde zwischen uns treten, dann ist es besser, wenn Ihr nicht zu vertraut mit Eurer Töpferin seid.«
Er legte ihre langen, jetzt glatten Haare über ihre blo ßen Schultern und betrachtete sie. Der matte Kerzenschein zeigte ihr seine dunkle, unversehrte Gesichtshälfte.
Nicht mehr jung, doch energisch und willensstark, in deren Zügen jetzt nicht mehr Verlangen, sondern stille Freundlichkeit lag.
»Für eine Weile magst du Recht haben, Annik. Aber nicht für ewig. Die Dame Anna Denezia ist mehr als nur eine gute Handwerkerin. Oder täusche ich mich da?«
»Anna, die Tochter der Deneza und die Erbin von Briag dem Schwarzen, hat alle ihre Ansprüche aufgegeben, Valerius.«
»Ansprüche, die dich zu weit mehr gemacht hätten als zur Herrin der Insel?«
»Woher wisst Ihr von diesem Titel?«
»Falco erwähnte ihn. Die Männer und Frauen, die mit dir gereist sind, nannten dich so. Wirst du mir erklären, was es damit auf sich hat?«
Annik seufzte leise.
»Ich bin es Euch wohl schuldig, Valerius.«
Sie erzählte ihm von der großen Flut, dem gewaltigen Sturm, dem ihr Clan, ihre Eltern, ihre Schwestern, ihr Mann, ihr Sohn und schließlich sogar noch das ungeborene Kind in ihrem Leib zum Opfer gefallen waren.
»Danach, Valerius, hatte ich lange Zeit keine Kraft mehr, mein Erbe anzutreten, und so übernahm ein entfernter Vetter die Führung meines Volkes. Er bot mir an, mich zu heiraten, an seiner Seite hätte ich zumindest meinen Stand wahren können. Es war ein großzügiges Angebot, aber ich lehnte es ab. Für mich war mehr zerbrochen als die Mauern und Firste meiner Häuser. Ich baute mir mit Hilfe einiger Leute aus der Nachbarschaft ein kleines Haus auf dem Flecken, auf dem zuvor mein Elternhaus gestanden hatte. Die Fluten hatten diesen Teil vom Land abgetrennt und eine kleine Insel vor der Küste gebildet. Zur Flutzeit liegt eine breite Wasserfläche davor, aber wenn die Ebbe kommt, kann man trockenen
Fußes zum Dorf gehen. Dorf!«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Ein paar Familien aus dem Hinterland hatten sich dort angesiedelt, Fischer, Handwerker, ein Töpfer. Er war ein gütiger Mann, der mich, als ich wieder einmal ziellos am Ufer entlangwanderte, in seine Werkstatt brachte und mir die Arbeit mit dem Ton, der weichen, formbaren Erde, zeigte. Diese Arbeit half mir, wieder zu mir zu finden. Sie, und meine Fürsorge für Rayan - Martius -, dem Einzigen, der wie ich an jenen schlimmen Sturmtagen nicht am Meer, sondern im Landesinneren gewesen war, um einem reichen römischen Gutsbesitzer die Pferde zu bringen, die seine Familie züchtete.«
Sie trank von dem süßen, leichten Wein. Ihr Gesicht trug Spuren von Trauer und Schmerz, die Valerius Corvus tief berührten.
»Jetzt verstehe ich, warum dir meine Narben nichts bedeuten«, sagte er leise. »Du trägst genauso tiefe wie ich.«
»Vielleicht. Nicht alle Narben liegen auf der Haut. Aber die Zeit lässt die Schmerzen der inneren wie der äu ßeren Wunden langsam schwinden. Ich habe meine Wurzeln zwar verloren, aber die Reise in dieses Land trat ich an in der Hoffnung, neue zu finden. Nicht so tiefe, aber solche, die mir wieder ein wenig Halt geben. Mutter Tekla, die Seherin, hat gesagt, dass es möglich wäre.«
»Und, hat sie richtig gesehen?«
Annik sah ihn an und lächelte: »Unsere Seherinnen täuschen sich nie. Ja, Valerius, ich fühle mich nicht mehr fremd hier, und meine Arbeit mit der Erde dieses Landes verbindet mich mit ihr.«
»Du kannst aber doch nicht auf Dauer Töpferin bleiben, Annik. Du wärest die Führerin deines Clans gewesen.«
»Die Führerin meines Stammes sogar, der Osismi, des Volkes am Ende der Welt.«
»Sie hätten dich Fürstin genannt oder Königin, nicht wahr?«
»Gelegentlich, wenn ich meine Macht auszuüben hätte. Aber groß wäre diese Macht nicht mehr gewesen, die Römer haben die Verwaltung
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