Der Siegelring - Roman
ihr Poesiealbum gekritzelt hat.«
»Unfug! Er hatte eine Freundin, zu der er an diesem Abend gefahren ist. Er ist um vier Uhr nachmittags vom Studio aufgebrochen und ist um halb sechs in der Früh verunglückt. Auf der Autobahn von Koblenz nach Bonn. Ich bitte dich, was hatte er da wohl zu suchen?«
»Er wollte zu seinem Agenten, das stand zumindest in seinem Kalender, und wie du weißt, hat Wegener das bestätigt.«
»Er war nicht bei ihm!«
Nein, er war nicht bei seinem Agenten gewesen, mit dem er um zwanzig Uhr in Koblenz zum Essen verabredet war, und es war natürlich ein Rätsel, wo er die beinahe vierzehn Stunden verbracht hatte. Auch ich hatte mir inzwischen Gedanken darüber gemacht. Ich wusste, dass Julian sich in den letzten Jahren für ein paar ausgefallene Ideen interessiert hatte, von denen er zwar mir, nicht aber Uschi erzählt hatte. Womöglich war er einer spontanen Eingebung gefolgt. Er hatte so seine Theorien von Orten, die irgendwelche Ausstrahlungen hatten. Eventuell hatte er sich also einfach irgendwo im Wald aufgehalten, den »Vibrations« gelauscht und darüber die Zeit vergessen. Aber das war eine Erklärung, die Uschi sowieso nicht gelten ließ.
»Ich könnte mir denken, dass eine mögliche Geliebte, wenn es denn eine gab, vermutlich ebenso tief getroffen von seinem Tod ist wie wir, meinst du nicht?«
»Blödsinn, ein Weib, das nur auf sein Geld aus war!«
»Ehrlich, Uschi, du spinnst!«
»Ich spinne nicht. Ihr wollt mich alle nur einwickeln. Ich bin kein kleines Kind, das man belügen und betrügen kann. Ich kenne die Welt!«
Sie fing hysterisch an zu schluchzen und kramte nach ihrem Taschentuch. Ich wollte ihr, ohne nachzudenken, den Arm um die Schultern legen, aber wieder stieß sie
mich fort. Ihr schauderte sichtlich vor meiner Berührung.
Ich verließ den Raum. Mehr konnte ich nicht tun. Uschi war krank vor Kummer und Groll. Ich musste mir das klar machen. Früher war sie ganz anders. Sie war wohl nicht die verantwortungsvollste Mutter, aber da waren ja noch die Kindermädchen gewesen. Kaum eine Tochter aber hätte eine lustigere Freundin haben können als sie. Warum sie sich nur hartnäckig die Existenz einer Geliebten einbildete? Oder war sie hellsichtiger, als ich dachte? Hatte sie bei Julian gespürt, dass seine Gefühle sich einer anderen Frau zugewendet hatten? Vielleicht ahnte man das, wenn man so lange zusammenlebt wie die beiden. Aber sie sollte ihn eigentlich nach achtundzwanzig Jahren ein bisschen besser kennen.
Julian war ein Künstler, ein Mensch, der für sein Publikum und seinen Dämon lebte, und er war ein guter Künstler, denn er gab immer alles. Er hatte es mir einmal erklärt, versucht, dieses Erlebnis zu beschreiben, was es bedeutete, die Gefühle der Menschen zu wecken, sie heiter zu stimmen oder besinnlich zu machen, ihre Energie zu wecken, ihnen einzuheizen oder sie zu besänftigen, sie zu Tränen zu rühren, sie tiefstes Leid spüren zu lassen oder Trost zu spenden. Das war nur möglich, wenn der, der sie in Bann hielt, diese Gefühle auch gab. Dass der Künstler dabei ganz in seiner Rolle aufging, sich selbst opferte und dabei seine eigene Persönlichkeit verlor, war die Voraussetzung dafür.
Zurück floss für ihn die Bewunderung, der Beifall wird nicht umsonst das Brot des Künstlers genannt, er hielt ihn am Leben und befähigte ihn, weiter an seiner Kunst zu arbeiten. Hingabe im wahrsten Sinne verlangte diese Aufgabe. Er war ihr gerecht geworden. Aber es hatte ihn auch zu einem seltsam undurchsichtigen Menschen gemacht.
Denn alle, nicht nur die Massen vor der Bühne, waren letztlich sein Publikum. Auch Uschi und ich. Für ein Kind ist es nicht schwer, mit so einer schillernden Figur zurechtzukommen.
Als ich noch klein war und die Welt voller Wunder schien, da war Julian ganz selbstverständlich der Zauberer darin, der in ständig neuen Gestalten auftrat, der mitreißende Geschichten zu erzählen wusste, mich in fremde, ferne Welten führen konnte, der mich über jede Brücke, über jede Grenze locken konnte, ohne dass ich nach Gefahren oder Nutzen fragte. Ich liebte ihn bedingungslos dafür und vertraute mich seiner Führung an.
Als mit dem Älterwerden die Entzauberung einsetzte, blieb ein Rest von diesem Wundern erhalten, doch ich merkte, dass Julian zwar in seiner jeweiligen Rolle völlig aufgehen konnte, aber auch, dass der wahre Julian schwer zu fassen war. Er machte das nicht mit Absicht, er bemerkte es vermutlich nicht einmal. Erst in den
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