Der Siegelring - Roman
Schwester und ich praktisch zum gleichen Zeitpunkt zur Welt gekommen waren, ließ darauf schließen, dass
wir - nach Adam Riese - ziemlich zum gleichen Zeitpunkt gezeugt wurden. Soso! Und Julian hatte diese Sache so gründlich verschwiegen, dass noch nicht einmal Gerüchte ihren Weg gefunden hatten. Kein Wunder, dass Uschi ausgerastet war. Vermutlich bildete sie sich jetzt ein, dass er noch weitaus mehr vor ihr verborgen hatte. Die Ärmste.
Aber ihr wollte ich erst später wieder meine Gedanken widmen. Meine mir noch unbekannte Schwester beschäftigte mich jetzt mehr. Wie gut sie wohl Julian kannte? Ob er ihr von mir erzählt hatte? Unsinn, das war gar nicht nötig. Uschi und ich waren oft genug mit ihm zusammen erwähnt worden, man hatte über uns berichtet, uns interviewt und fotografiert. Das Privatleben eines Stars ist keines. Das seiner Familie ebenfalls nicht. Ob sie mich kennen lernen wollte? Sie hätte es schließlich schon längst tun können, wenn sie es echt gewollt hätte. Doch möglicherweise hatte Julian ihr geraten, es bleiben zu lassen, aus Rücksicht auf Uschi.
Aber er hatte uns in Verbindung miteinander gebracht, denn nicht von ungefähr trugen wir die Namen Anahita und Rosewita.
Ich war schwarzhaarig, und ich hätte jede Wette darauf abschließen können, dass die weiße Rose blond war.
6. Kapitel
Rose
Die Wette mit mir gewann ich.
Aber es dauerte noch ein paar Wochen, bis ich zu meinem Besuch aufbrechen konnte. Erst Ende August fühlte ich mich einigermaßen fit und hatte auch nicht mehr das Gefühl, dem Maskenbildner eines Horrorfilms entsprungen zu sein. Uschi verriet ich vorsichtshalber nichts von meinem Vorhaben. Sie hatte sich nach ihrem Zusammenbruch inzwischen recht gut erholt und fing allmählich an, wieder Kontakt zu ihren Freunden aufzunehmen. Über das Testament sprach sie nicht mit mir.
Von Dr. Schneider hatte ich einige dürre Informationen bekommen. Daraus ging hervor, dass sich Rosewita van Cleve als Glasdesignerin bezeichnete und ein Atelier oder eine Werkstatt in Wesseling hatte. Ein bisschen plagten mich Hemmungen, und obwohl ich von dem Notar ihre Telefonnummer erhalten hatte, konnte ich mich auch nach mehreren Anläufen nicht überwinden, sie anzurufen. Mehrmals hatte ich die Nummer gewählt, aber dann doch wieder aufgelegt, bevor sie sich meldete. Ich wusste einfach nicht, was ich ihr sagen sollte. Wenn sie vor mir stand, würde es eventuell leichter sein. Und so machte ich mich an einem warmen, sonnigen Sommertag auf den Weg, meine Schwester kennen zu lernen.
Die Werkstatt lag in einem Industriegebiet und war innerhalb eines größeren Fertigungskomplexes untergebracht. Sie teilte sich das Gebäude mit einer Schreinerei, einem Metall verarbeitenden Unternehmen und einer
Leihwagenfirma. Ich betrat die als Atelier bezeichneten Räumlichkeiten, und als ich die Tür öffnete, erklang irgendwo drinnen ein Glockenspiel. Ich befand mich in einem Ausstellungsraum. Interessiert schaute ich mich um. Ein Glasfenster aus farblosem, aber facettiertem Glas zog meinen Blick sofort an. Es war schlicht und geometrisch gestaltet, doch das Sonnenlicht brach sich in den geschliffenen Prismen und warf fantastische Farbspiele auf den hellen Fliesenboden. Eine erstaunliche Arbeit. In zwei Vitrinen standen Glasgefäße, geblasen, manche geschliffen. Auch sie schlicht, beinahe alle aus farblosem oder leicht grünlichem Glas. Nicht alle gefielen mir auf Anhieb, aber die handwerkliche Leistung beeindruckte mich.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
Ihre Stimme war sanft, beinahe ein bisschen schüchtern. Ich drehte mich um und lächelte die Sprecherin an. Selbst wenn ich es nicht vorgehabt hätte, ihr mit einem freundlichen Gesichtsausdruck zu begegnen, so hätte sie mir doch unwillkürlich ein Lächeln entlockt. Sie war klein und zierlich, kurze, sehr hellblonde Locken standen ihr ein wenig zerzaust vom Kopf ab, und ihr Gesicht konnte man mit gutem Gewissen puppenhaft nennen. Die braunen Augen darin wurden zunehmend größer, als sie mich ansah. Es waren die Augen meines Vaters.
»Kennen wir uns?«
»Sie kennen mich wahrscheinlich. Mein Name ist Anahita Kaiser.«
Meinen Taufnamen verwendete ich so gut wie nie, nur bei offiziellen Unterschriften war es manchmal nötig. Aber hier und heute schien es mir wichtig zu sein, ihn zu nennen.
»Bestimmt?«, fragte Rosewita. »Oh, ich dachte...«
»Wir sind Halbschwestern.«
»Ja.... Ja, ich weiß. Ich bin nur ziemlich überrascht. Ich...
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