Der Siegelring - Roman
haben. Sein braunes Haupthaar fiel ihm weich und wellig auf die Schultern, doch es lichtete sich bereits über der hohen Stirn. Ein Bart umgab sein Kinn, ebenfalls seidig und leicht gekräuselt. Seine braunen Augen lagen in tiefen Höhlen in seinem mageren Gesicht. Wenn er auch jung und ein wenig schwächlich wirkte, so hielten seine Arme die schwere Harfe doch mühelos. Als
sich rund ein Dutzend Männer und Frauen um ihn versammelt hatten, zeigte er seine wahre Begabung. Aus dem Stegreif heraus sang er in einprägsamen Versen über all die Neuigkeiten, die man ihm seit dem letzten Vollmond zugetragen hatte. Er tat das so geschickt, dass bald alle gebannt lauschten und die Reime für sich wiederholten, in die er die Nachrichten fasste. Schließlich hatte er alles vorgebracht, was er wusste, und als sich das Gemurmel über die Meldungen gelegt hatte, sah er auffordernd in die Runde. Es war ein knorriger Alter, der zu sprechen begann.
»Es sind Gallier aus dem Norden eingetroffen. Reiter mit prächtigen Pferden. Sie sind nach Bonna gezogen. Auxiliartruppen der Legio I Flavia Minerva.«
Voll Verachtung spuckte der Alte auf den Boden. Gallier, die sich bei den Römern verdingten, genossen nicht sein Wohlwollen.
»Wie viele?«
Der Alte nannte die Zahl der Männer und Pferde.
»Es sind auch fünfzehn Frauen darunter. Sind samt und sonders in der Canabae untergeschlüpft. Bis auf eine.«
»Ist die von besonderem Interesse?«
Der Alte kicherte.
»Ist ein prachtvolles Weib. Sie hat die andern Hühner während der Reise gut im Griff gehabt, heißt es. Aber die Welt der Hütten und Huren ist ihr zu eng geworden, und der hochwohllöbliche Praefectus Lucius Aurelius Falco kümmert sich jetzt persönlich um sie, heißt es. Ihr hübscher blonder Krieger dagegen wird in der Ersten Ala geschliffen.«
»Er hat sie auf das Gut des Valerius Corvus gebracht«, ließ sich ein anderer vernehmen. »Als Töpferin soll sie dort arbeiten.«
»Ein Römerliebchen?«, fragte ein beleibter Mann mit dem gewichtigen Gehabe eines Dorfvorstehers.
»Die nicht. Die ist aus besonderem Holz geschnitzt!«, krächzte der Alte.
»Es sollte sie einer im Auge behalten«, schlug der Barde vor. »Habt ihr vielleicht auch noch ein paar interessantere Neuigkeiten zu berichten als die Einstellung einer gallischen Töpferin bei Valerius?«
»O doch!«, ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. »Aber bei den Männern hat die blonde Schnepfe natürlich Vorrang vor dem Senator Publius Fabius Pontanus, der samt Familie von Treverum nach Colonia zieht. Er wird in drei oder vier Tagen hier vorbeiziehen.«
»Mit Familie?«
»Und Hausstand!«
Ein erfreutes Raunen ging durch die Gruppe.
»Darum kümmert sich Kemo am besten«, sagte der Barde, und ein drahtiger Mann nickte.
»Es geht das Gerücht, dass Traian wieder nach Colonia zurückkehrt«, sagte eine andere Frau. »Und das Gerücht sagt ebenfalls, dass Caesar ihn adoptieren wird.«
»Wann?«
Scharf wie ein Peitschenschlag kam die Frage.
»Keine Ahnung. Wir werden die Ohren offen halten!«
Weitere Nachrichten ähnlicher Natur, aber ebenso Gerüchte und Geschwätz wurden ausgetauscht, bis schließlich alles gesagt worden war, was es zu sagen gab. Der Barde hob seine Harfe und bewies wiederum sein überragendes Können, indem er alles, was besprochen worden war, noch einmal in leicht zu merkenden Versen zusammenfasste.
Leise und unauffällig, wie sie gekommen waren, verschwanden die Teilnehmer des Treffens wieder, und die Lichtung blieb den Tieren überlassen. Sie kamen nach
und nach zurück, denn die leisen Klänge der Harfe störten sie nicht.
Ich schüttelte meine rechte Hand, um sie von dem Schreibkrampf zu befreien und nahm dankbar von Cilly das Glas Wein entgegen.
»Tja, das war meine erste Bekanntschaft mit Annik«, sagte Rose und nahm ebenfalls einen Schluck.
»Und mit Lucius Aurelius Falco, den ich ja auch schon kennen gelernt habe.«
Cilly hatte sich im Lotussitz zusammengeknotet und brach ihr gebanntes Schweigen, das sie die ganze Zeit über bewahrt hatte.
»Rosina, Annik und Gratia sind wir drei, kennt ihr denn nicht diesen Falco oder den Martius oder den Barden?«
Verblüfft sahen meine Schwester und ich das Mädchen an. Die harmlose Frage barg Zündstoff. Denn wenn Personen, die wir bisher nicht kannten und die auch Julian nicht kannte, plötzlich in unserem Leben auftauchen würden, dann, ja dann...
»Es sind erfundene Geschichten, die unser Vater uns erzählt hat, als wir
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