Der Siegelring - Roman
den sieben Bergen jenseits des Rheins aufgestiegen, und sein fahles, bläuliches Licht schimmerte auf dem Laub der Bäume. Den Fremden waren die Wälder unheimlich, dicht waren sie und undurchdringlich, ohne Wegmarken und sichtbare Pfade. Doch jenen, die hier seit Generationen lebten, bedeutete eben dies Schutz und Sicherheit. Nicht nur, weil jeder, der unvorbereitet in sie hineingeriet, sich unweigerlich verirren würde, sondern auch, weil sie die Behausung der Götter waren.
Verborgen hinter sturmgefällten Baumriesen, moosigen, verrottenden Stämmen und eng verwobenem Unterholz gab es stille Lichtungen, grasbewachsene Flecken, an denen sich das Wild zum Äsen sammelte, wo sie sich paarten oder ihre Kämpfe ausfochten, wo die nächtlichen Jäger mit ihren glühenden Augen, scharfen Zähnen und spitzen Krallen ihrer Beute auflauerten. Es waren Plätze, an denen sich dann und wann Menschen zu Andacht und Opfer versammelten. Es waren heilige Stätten für sie, Stellen, an denen ihnen die Verbindung zu den Göttern leicht fiel.
Eine solche Lichtung war es, die der volle Mond nun beschien. Hoch aufragend wie silbrige Säulen umstanden die Buchen den beinahe kreisrunden Platz, duckten sich Heckengehölze und dornige Rankgewächse um ihn herum. Ob er einst von Hand frei geschlagen worden war
oder ob eine seltsame Laune der Natur hier nur samtiges Gras wachsen ließ, wusste niemand mehr. Es gab nichts Augenfälliges an diesem Ort; kein altes Hügelgrab, keine plätschernde Quelle, kein flechtenbewachsener Megalith kennzeichneten das Rund. Und doch herrschte eine seltsame Stimmung in diesem Tempel aus lebendem Holz. Kaum ein Windhauch bewegte die Blätter, selten nur knisterte ein trockenes Ästchen, ein verdorrtes Blatt unter den Füßen der kleinen und großen Lebewesen, die ihn bevölkerten. Es roch nach Pilzen, nach harzigen Rinden, feuchtem Humus. Und die Luft war erfüllt von den zarten Klängen, die menschliche Hände den Saiten einer Harfe entlockten. Eine Ricke mit ihren Kitzen ließ sich davon nicht stören, ebenso die Eichhörnchen nicht, die nach den ersten reifen Bucheckern suchten. Ein Wildschwein grub schmatzend mit seinem Rüssel nach unterirdischen Pilzen, und zwei mümmelnde Hasen drehten zwar ihre Lauscher aufmerksam hin und her, aber den Musiker beachteten sie nicht weiter. Auch nicht, als er begann, mit verhaltener, wohl klingender Stimme die alten Weisen über die Geschichte seines Volkes, seiner Helden und seiner Götter zu singen. Es waren Worte einer alten Sprache, in der die Tradition bewahrt wurde, die der Sänger in vielen Jahren von seinem alten Lehrer mündlich überliefert bekommen hatte. Sie hatten sich ihm tief ins Gedächtnis eingeprägt, die Berichte über die großen Taten und die großen Gefühle seiner Vorfahren. Er sang von Treue und Opferbereitschaft, von Trauer und Stolz, von Ruhm und Demütigung, von Verwundung und Heilung. Er beschwor die hohen Tugenden, die überströmende Gastfreundschaft, die Furchtlosigkeit vor dem Tod und die Bereitschaft, klaglos Schmerzen und Verluste zu ertragen, wie sie die Frauen und Männer seiner Ahnen immer wieder bewiesen
hatten. Doch auch disharmonische Töne mischten sich unter die melodischen Klänge, die Zeugnisse von Verrat und Niedertracht, von hinterhältiger Bosheit, habgieriger Dummheit und gnadenloser Rachsucht. Zeitlos waren die Themen, die er besang, allgegenwärtig und menschlich.
Nur eines schien von einem ganz anderen Klang gefärbt zu sein - das Lied, das von einer unendlichen Liebe handelte, von Hingabe und tiefstem Vertrauen, die bestehen bleiben sollten. Es sprach von einer Sehnsucht, die zwei Menschen über alle Zeiten und Welten verband und die unablässig und gegen alle Hindernisse nach Erfüllung strebte.
Das feine Gehör der Ricke hatte die Herannahenden als Erste wahrgenommen. Mit graziösen Sprüngen verschwand sie mit ihren Kindern im Schatten der Bäume. Der Barde aber wechselte die Tonart, als er dies sah, und seine Stimme wurde kräftiger. Die Harfe rief zur Versammlung. Die Eichhörnchen huschten die Stämme empor, die Hasen brachten sich mit weiten Sätzen in Sicherheit, und das Wildschwein ließ widerstrebend seinen kostbaren Fund im Stich.
Sie kamen in kleinen Gruppen, paarweise, selten nur einzeln. Sie alle aber schwiegen und suchten sich ihren Platz auf dem weichen Grasboden rund um den Barden.
Er war für seinen Stand noch ein erstaunlich junger Mann, mochte das fünfundzwanzigste Lebensjahr kaum erreicht
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