Der Siegelring - Roman
noch Kinder waren!«, wehrte Rose entschieden ab.
»Nicht ganz, später noch hat er, zumindest mir, manchmal solche Storys erzählt. Meist, wenn er irgendetwas aus jener Zeit gesehen oder gefunden hat. So etwas wie der Abdruck der Katzenpfote hätte ihn zu einer hinreißenden Geschichte animiert«, lenkte ich ebenso von der unbequemen Frage ab, aber Cilly war hartnäckig.
»Schon gut, aber kennt ihr nun einen Falco oder einen Martius oder einen Valerius Corvus oder sonst so wen?«
»Dieses Mädchen ist nagend«, stöhnte Rose, aber ich war nachdenklich geworden.
»Doch, ja, Cilly. Einen von ihnen kennen wir.«
»Was?«, fuhr Rose auf.
»Den Barden, Schwester. Den Mann, der von großen Taten und großen Gefühlen sang!«
»Himmel, ja!« Cilly hopste im Lotussitz auf und ab wie ein Guru kurz vor der Levitation ins Nirwana. »Euer Vater, der Knöd... sorry, der Sänger.«
»Richtig, der Barde hat sich selbst eingebracht.«
Rose nickte und gähnte herzhaft.
»Leute, es ist schon ziemlich spät geworden, lasst uns jetzt Schluss machen mit der Geschichte. Mir fällt im Augenblick sowieso nichts mehr ein.«
»Einverstanden. Und morgen bringe ich meinen Laptop mit. Papier und Bleistift sind ja ganz schön, aber schneller bin ich auf der Tastatur.«
»Ich bin auch ziemlich schnell!«, sagte Cilly mit funkelnden Augen. »Ihr könnt mich richtig gut brauchen!«
»Du bist ein selten vorwitziges Geschöpf, kleine Schwester-Schwester. Pass nur auf, dass wir dich nicht zum schmuddeligsten, schieläugigsten und unmanierlichsten Junghühnchen des gesamten römischen Reiches machen.«
»Och, das würdet ihr doch nicht...«
»Wart es ab. Bis morgen. Ich werde vor dem Einschlafen darüber nachgrübeln, was Julian mir noch so alles an römischen Geschichten erzählt hat.«
»Vielleicht solltest du den alten Ring dazu über den Finger ziehen, Anita. Möglicherweise beflügelt er deine Fantasie, und du kannst die Geschichte um dieses Detail ergänzen, das unser Vater dir so gerne noch erzählt hätte.«
Ich hatte einen Kloß im Hals und konnte nur zustimmend nicken. Die Idee war echt gut.
Der Erfolg war überwältigend. Denn ich erinnerte mich nicht nur an Anniks Reise nach Colonia, sondern ich träumte auch tatsächlich eine Szene, in der dieser kleine, rote Gemmenring mit dem Pferdchen eine Rolle spielte. Und zwar in so leuchtenden und eindringlichen Farben, dass mir jede Einzelheit im Gedächtnis blieb. Ich erwachte lächelnd. Julian musste mir seine Begabung zum Erfinden von abenteuerlichen Geschichten ebenfalls vererbt haben.
Den Tag über schob ich jedoch die Gedanken daran zurück, denn ich hatte ein paar Termine mit Leuten, die sich eventuell für eine Ausstellung von Roses Kunstwerken erwärmen könnten.
Wir hatten uns für den späten Nachmittag verabredet, und kurz bevor ich bei Rose ankam, traf mich eine leicht erschütternde Erkenntnis. Cillys Frage nach den anderen Protagonisten der Geschichte hatte ich völlig verdrängt. Gut, weder einen Falco noch einen Corvus kannte ich, aber Martius, den Krieger und Abenteurer, so wie ihn Annik zum Geliebten hatte, der war mir schon über den Weg gelaufen.
»Julian, was hast du alles gewusst?«, flüsterte ich, als ich ausstieg und zu Rose in die Wohnung ging.
»Er hat wohl eine viel tiefere Menschenkenntnis gehabt, als wir uns das vorgestellt haben, Anita«, tröstete Rose mich, als ich ihr von der Ähnlichkeit erzählte. »Es ist gewiss nicht ungewöhnlich, dass wir derartigen Charakteren begegnen. Ich würde das nicht so ernst nehmen. Diese Haudrauf- und Mittendurch-Typen hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es auch in Zukunft geben. In zeitgemäß angepasster Gewandung!«
»Da ist was dran«, musste ich ihr zustimmen und verscheuchte das unbehagliche Gefühl. »Ich habe zumindest die Story für heute Abend. Cilly, hier ist die Tastatur.
Ich erkläre dir kurz die Sache mit dem Speichern, und dann zeig, was du kannst. Denn es wird bunt und farbenfreudig!«
9. Kapitel
Die Colonia
Die Reise, die Annik antrat, dauerte alles in allem zwei Monde, und während dieser Zeit lernte sie den Praefecten Falco mehr und mehr schätzen. Er hatte seine zusammengewürfelte Gruppe gut im Griff. Pferde, abenteuerlustige, aber völlig undisziplinierte Männer und weitere vierzehn Frauen unterschiedlichen Alters mussten teils per Schiff die Küste entlang, später dann über Land auf den gut ausgebauten Römerstraßen geführt werden. Jeden Abend mussten Lager aufgeschlagen
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