Der Siegelring - Roman
und Mensch und Tier verpflegt werden. Sie bewunderte sein Organisationstalent, doch einige Male war sie auch explosiv mit ihm aneinander geraten. Möglicherweise lag es daran, weil sie ihn bereits über Martius kannte, dass die Frauen sie ganz selbstverständlich zu ihrer Sprecherin wählten und sie mit ihren Problemen zu ihm schickten. Wenn es darum ging, einen Tag länger Rast zu machen, um den Frauen die Möglichkeit zum Waschen zu geben; ob es darum ging, den beiden Schwangeren einen Platz im Verpflegungswagen zu sichern, den Kranken die Möglichkeit zur Behandlung und Ruhe zu verschaffen - sie war es, die ihm in zähen Diskussionen diese Vergünstigungen abrang. Falcos Ziel nämlich war es, so schnell wie möglich seine neu angeworbene Truppe der strengen Ausbildung in der Legion zuzuführen. Die Gallier waren zwar ein Volk von mutigen und kraftvollen Kämpfern, aber sie neigten zum Eigensinn bis hin zur Sturheit.
Alles in allem schien aber die Seherin Recht gehabt zu haben, die Reise verlief weitgehend problemlos für Annik, und hin und wieder genoss sie sogar die Erfahrung, neue Eindrücke sammeln zu können. Von Martius sah sie in dieser Zeit wenig. Er zog die Gesellschaft der Männer vor, und nur hin und wieder stahl er sich nachts in den Schlafbereich der Frauen, um mit ihr bis kurz vor dem Wecken das Lager zu teilen. Annik ahnte, dass Falco von dieser Übertretung seiner Regeln wusste, aber es in ihrem Fall vorzog, das Geschehen zu ignorieren.
Ihre Ankunft in Colonia Claudia Ara Agrippinensium erfolgte an einem heißen Tag Ende August. Annik war gefesselt von der riesigen Stadt. Es war die größte Ansiedlung von Menschen, die sie bisher gesehen hatte. Es war auch die luxuriöseste und prachtvollste. Die Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen beeindruckte sie schon von weitem, die sauberen, geraden Straßen, die weißen, mehrstöckigen Häuser, das prächtige Forum, das Praetorium und die Tempel hätte sie sich gerne länger angesehen, doch auch hier bestand Falco darauf, unerbittlich schnell die Stadt zu durchqueren. Ihr Lager schlugen sie südlich der Stadtmauer auf, und es hieß, dass sie am folgenden Tag ihren Bestimmungsort, Castra Bonnensia, erreichen würden.
So geschah es, und Annik, zusammen mit den anderen Frauen, wurde in die Vorstadt, die Canabae, verwiesen, wo die Angehörigen der Truppe, die zivilen Handwerker und Dienstleister unterschiedlicher Gewerbe lebten. Einige Frauen fanden Unterkunft bei ihren Landsleuten, für sich und drei weitere gelang es Annik, eine leer stehende Behausung zu finden, eine baufällige Hütte voller Ungeziefer und zerbrochener Möbel. Wie üblich fanden die lebenslustigsten Mädchen in ihrem Gefolge
gleich den Anschluss an das älteste und überall blühende Gewerbe, das in dem Haus betrieben wurde, dem eine Matrone mit dem ehrenwerten Namen Honoria vorstand.
Befriedigend fand Annik ihre Lage nicht, aber sie war nicht der Typ, der über unschöne Umstände jammerte. Es gab eine Töpferei und eine Ziegelei in der Vorstadt. Dort versuchte sie, Arbeit und eine passendere Unterkunft zu bekommen. Es erwies sich aber, dass der Töpfer ein ungehobelter Kerl war, der von Frauen an der Drehscheibe nichts hielt und seine eigenen vier Söhne in der Werkstatt beschäftigte. In der Ziegelei wurden zwar Helfer gesucht, aber die grinsenden Handlanger, die der Patron beschäftigte, machten sich eine Freude daraus, Annik die schwersten und schmutzigsten Arbeiten zuzumuten und sie dabei feixend mit dümmlichen und anzüglichen Bemerkungen anzufeuern. Nach zehn Tagen war Annik so weit, dass sie zornschnaubend dem Ziegeleibesitzer die Meinung sagte. Sie schieden nicht als Freunde.
Am Abend war Annik dann zum Fluss hinuntergegangen. Dort setzte sie sich nieder und gab sich, vierzehn Tage nach ihrer Ankunft in Germanien, zum ersten Mal dem schmerzlichen, hilflosen und sehnsuchtsvollen Gefühl des Heimwehs hin.
Der Rhein war ein breiter Fluss, der sich in sanften Biegungen durch das überaus liebliche Tal schlängelte. Der Wasserstand war nach der sommerlichen Trockenheit niedrig, und rundgeschliffene, weiße Kiesel säumten sein Ufer. Niedriges Strauchwerk hatte sich hier und da festgekrallt und warf lange Schatten in der sich langsam dem Horizont zuneigenden Sonne. Auf den kleinen Wellen glitzerte das Licht. Behäbig trieb ein belaubter Ast vorbei, und ihm folgte Annik mit ihrem Blick. Sie beneidete ihn,
denn sein Weg würde ihn mit der Strömung hin zum Meer treiben. Dem
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