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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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hören!«
    »Sollst du, Kind, sollst du!«

15. Kapitel
    Leben auf dem Gut
    Ein Winter war vorübergegangen und hatte dem zarten Grün des Frühlings Platz gemacht. Annik hatte sich von dem Land verzaubern lassen, die Wiesen von blauen Sternhyazinthen, die violetten Veilchen, die seidenblättrigen Buschwindröschen, die sich in weißen Flächen unter den lichten Buchen ausbreiteten, die duftenden Maiglöckchen und die schäumenden Weißdornhecken hatten sie sehr für den Wald eingenommen. Sie war viel darin umhergestreift und hatte die verborgenen Wege, die heimeligen Lichtungen, stillen Seen und süßen Quellen entdeckt. Im frühen Sommer stand sie staunend vor den prächtigen gelben Schwertlilien, die die schmalen Wasserläufe säumten, trug rosa und weiße Heckenrosen in ihre Hütte, um sich an ihrem Duft zu erfreuen. Später hatte sie von Ursa vieles über die Wirkung der Beeren und Kräuter gelernt, die an den Rainen und Hecken wuchsen. Manche waren ihr bekannt, andere vollkommen neu. Ursa war geschickt in der Zubereitung von Salben und Tinkturen, nicht alle ihre Geheimnisse gab sie jedoch preis.
     
    Im Großen und Ganzen fühlte Annik sich wohl auf dem Gut. Valerius Corvus war den überwiegenden Teil der Zeit in der Colonia, und sie wusste inzwischen, dass er dort das Amt eines Stadtrates einnahm. Rosina hingegen hatte sich mehr und mehr mit ihr angefreundet, und als der Sommer Einzug hielt, hatte sie begonnen, Annik an
manchen Abenden in die Villa einzuladen, um dort mit ihr und Gratia zu essen und sich zu unterhalten. Das hatte bei ein paar der weniger bevorzugten Mitglieder des Haushaltes einige schiefe Blicke ausgelöst, aber nachdem es zur Gewohnheit geworden war, verstummten die spitzen Bemerkungen und Nörgeleien.
    Es kam nicht von ungefähr, dass sich diese Freundschaft vertieft hatte. Ein Vorfall, von dem nur ganz wenige wussten, war der ausschlaggebende Anlass dazu.
    Es war ein nebliger Frühsommerabend gewesen, als Gratia, etwas beunruhigt nach der Cena, dem abendlichen Mahl, zu Annik in ihre Hütte kam, wo diese am Saum einer groben Tunika stichelte.
    »Rosina ist nicht zum Essen gekommen«, sagte sie ohne Begrüßung. »Hast du sie gesehen?«
    »Sie wird in ihrer Werkstatt sein, Gratia.«
    »Eben nicht.«
    »Nicht? Und du bist ganz sicher, dass sie nicht im Haus ist?«
    »Ganz sicher. Ich habe überall nachgeschaut. Sogar in den Vorratskellern. Der Pförtner hat sie aber nicht weggehen sehen.«
    »Hast du Ursa gefragt?«
    »Ursa ist nicht da. Sie ist gestern zu ihrer Familie gerufen worden. Jemand liegt im Sterben.«
    »Was ist mit Mechthild, ihrer Dienerin?«
    »Hat sich heute Nachmittag zu Berold hinausgeschlichen!«
    »Weiß Charal etwas?«
    »Ich habe ihn nicht gefragt. Ich denke, es muss nicht jeder wissen, dass sie fort ist.«
    Annik nickte zustimmend und fragte: »Wann hast du sie denn zum letzten Mal gesehen?«
    »So um die Mittagsstunde herum. Sie kam aus dem
Badehaus, in ihrer roten Stola. Richtig hübsch zurechtgemacht. Darum denke ich, sie ist nicht in die Werkstatt gegangen. Aber wir haben auch keinen Besuch bekommen. Also irgendwas stimmt da nicht.«
    Fragen standen in den aufgerissenen Augen des Mädchens, und Annik las darin ihre eigenen Gedanken. Hatte Ulpia Rosina einen heimlichen Liebhaber? Möglich war es. Kurz ging sie alle ihr bekannten Männer durch. Von den Bewohnern des Gutes kam wohl niemand in Frage, Arbeiter, Knechte, Handwerker, Bauern … das war nicht Rosinas Stil. Aber wer wusste schon um die verborgenen Wege der Liebe und der Leidenschaft? Andererseits - einige Male hatte sie Aurelius Falco in freundlichem Gespräch mit der Domina angetroffen. Vor ihm hatte sie weitaus weniger Scheu als vor ihrem eigenen Gatten. Und auch Falcos strenges Gesicht war ihr bei diesen Begegnungen weicher erschienen als sonst. Möglich wäre es! Wenn sie sich mit ihm getroffen hätte, dann sicher nicht in der Villa.
    »Ich werde nach ihr suchen, Gratia. Geh ins Haus zurück.«
    »Nein, ich komme mit. Du kannst nicht alleine gehen. Es wird bald dunkel.«
    »Gerade deswegen. Ich will nicht, dass du auch noch verloren gehst.«
    »Wo willst du sie denn suchen?«
    »Im Wald, denke ich!«
    »Nein!«
    Ein Ausruf des Entsetzens kam von Gratias Lippen.
    »Doch, Gratia. Ich kenne mich inzwischen dort recht gut aus. Es ist nicht so unheimlich, wie du glaubst. Nun lauf! Wenn ich morgen früh nicht mit ihr zurück bin, sag Charal Bescheid und bitte Erwan, dass er den Barden Cullen benachrichtigt.

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