Der Siegelring - Roman
war
unübersehbar. Er würde es verwenden, wenn sich eine Gelegenheit gab. Konnte man nur hoffen, dass es nicht zu unserem Schaden war.
»Rose ist meine Schwester. Julian hatte zur selben Zeit, als er mit Uschi ging, noch eine weitere Freundin. Wir sind im Abstand von drei Tagen auf die Welt gekommen. Uschi und ich haben von ihrer Existenz aber erst nach seinem Tod erfahren.«
»Fleißig, fleißig, der Caesar. Ein König und ein Kaiser im Bett!«
»Tja, wenn man erwachsen wird, lernt man so einige seltsame Seiten an seinen Eltern kennen.«
»Wirft auch ein interessantes Licht auf das Verhalten deiner Mutter.«
»Gott, ja. Es ist ein zusätzlicher Stachel in ihrer Seele. Ich werde heute Mittag ins Krankenhaus fahren und sehen, ob ich irgendwas tun kann.«
»Du wirst mir verzeihen, wenn ich dich auf diesem schweren Gang nicht begleiten werde.«
»Aber gewiss. Pack du dein Köfferchen und mach dich für die schönen Sambatänzerinnen bereit.«
»Und wenn ich nun von einem Hai gefressen werde?«
»Dann werde ich eine Portion Sashimi zu deinem Gedenken essen. Oder eine Haifischflossensuppe!«
»Eine köstliche Idee.«
Der Besuch bei Uschi war alles andere als erquicklich, und ziemlich angeschlagen kam ich gegen Abend in meine Wohnung zurück. Ich hatte mit dem Arzt gesprochen, sie würde zumindest von ihm keine weiteren Medikamente mehr erhalten. Aber sie musste sich einer Therapie unterziehen, daran führte kein Weg vorbei. Natürlich wehrte Uschi sich mit Händen und Füßen dagegen.
Rose hatte mehrfach versucht, mich zu erreichen, sie hatte drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich gab ihr nur eine kurze Zusammenfassung und entschuldigte mich dann, dass ich an diesem Tag alleine sein wollte.
»Ist in Ordnung, Anita. Komm, wenn die Wellen sich wieder gelegt haben.«
»Na ja, am Samstag wie üblich, und wir können an der Geschichte weiterbasteln. Durch das ganze Drama ist mir nämlich eine ziemlich aufregende Episode eingefallen.«
20. Kapitel
In den Wäldern
Das Haus lag außerhalb des Dorfes, schon verborgen hinter den ersten Eichen und Buchen und nur über einen schmalen, ausgetretenen Pfad erreichbar. Doch es störte seinen Bewohner nicht, abseits von dem geselligen Getriebe zu leben. Ja, es war für ihn sogar notwendig. Denn hier fand er die Ruhe, seine Gesänge zu dichten. Hier konnte er den Fäden seiner Gedanken in Muße folgen und aus ihnen seine Muster weben. Er erhielt viele Nachrichten, hörte tausenderlei Geschwätz und flüchtige Gerüchte. Nichtiges und Wichtiges vereinten sich in diesen stillen Zeiten zu einem Bild, in dem Menschen und Geschicke sich über Raum und Zeit vereinten. Und da er auch die alten Sagen kannte, fand er immer wieder die Ähnlichkeiten in den Verhaltensweisen und konnte manches vorhersagen, was geschehen würde. Er hatte einen guten Lehrer gehabt, der ihm das geheime Wissen seines fast untergegangenen Volkes anvertraut hatte, und er hätte ein kluger Ratgeber für die sein können, die ihm vertrauten.
Doch der Lehrer war tot, geblieben war eine Frau. Und die sah nicht die Heiligkeit seines Tuns, sondern den Nutzen, den man daraus ziehen konnte. Sie war es, die dem nüchternen Bild, das der Barde schuf, die Farben hinzufügte. Sie tat es unmerklich für ihn. Sie tat es auf eine hinterhältige Weise, denn sie weckte die Gefühle in ihm. Darum konnte er nicht mehr Abstand halten zu den Fäden, die er gesponnen hatte, er nahm teil und
wurde Teil des Netzes. Kein Lehrer war da, um ihn zu warnen und in seine Grenzen zu weisen.
So wurde er ehrgeizig. Er nutzte sein Wissen nicht nur, um Rat zu erteilen, sondern gleichzeitig, um das Muster zu verändern, das er sah.
Manchmal tat er das, indem er andere zum Handeln bewegte, manchmal tat er es, indem er andere nicht vom Handeln abhielt. Er hatte nicht eingegriffen, als er die beiden Jungen beobachtete, die die Herrin der Villa tiefer und tiefer in den Wald lockten, und er tat es auch diesmal nicht, sondern handelte, wie von ihm erwartet wurde.
»Welchen Weg nimmt Valerius Corvus, wenn er von der Colonia zum Gut reitet?«, fragte sein Besucher, ein langgliedriger, zäher Mann mit scharfen Augen.
»Du bist vertrauter mit den Wäldern als ich, warum findest du es nicht selbst heraus?«
»Ich bin vertraut damit, die Wege des Wildes zu verfolgen, nicht die der Menschen.«
»So gilt dein Pfeil dem Herren der Villa?«
Der Mann zog kaum merklich die Schultern hoch.
»Er hat sie beleidigt, sie wünscht
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