Der Siegelring - Roman
Meine Finger zitterten nur ganz wenig, als ich den Notruf wählte, und ich war in der Lage, nüchterne Angaben zu machen.
»Willst du gleich auf die Autobahn, Anita?«
»Nein. Zu ihr. Noch habe ich die Hoffnung, dass wir sie vielleicht erwischen, bevor sie losfährt. Oder dass sie es sich anders überlegt hat.«
»Ja, das macht Sinn. Übernächste Abfahrt?«
»Ich lotse dich.«
Die Schneeflocken tanzten im grellen Licht vor uns. Marc fuhr schnell, aber er hatte den Wagen im Griff. Ich hatte den Eindruck, dass er die Situation genoss. Ich nicht, aber trotzdem war es besser, dass er fuhr und nicht ich.
»Danke, Marc.«
»Schon gut. Was hat deine Mutter?«
»Sie verkraftet Julians Tod nicht. Sie ist labil, und da ich jetzt ausgezogen bin und meinen eigenen Angelegenheiten nachgehe, gibt sie mir die Schuld an ihrer Einsamkeit.«
»Du bist erwachsen, was will sie noch von dir?«
»Ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Darauf hat kein Mensch ein Recht.«
»Das versteht sie jetzt aber nicht.«
»Sie gehört in Behandlung!«
»Ist sie ja. Daher diese verdammten Tabletten! Da vorne rechts, Marc!«
Wir fuhren in den Ort hinein, in dem Uschi wohnte. Es war menschenleer um diese Zeit, und auf den geparkten Autos sammelte sich eine weiße Schneedecke. Wir bogen in die Seitenstraße ein, als uns der große Wagen entgegenkam.
»Verdammt, das ist sie!«, rief ich aus, und Marc trat auf die Bremse. Das Fahrzeug schlitterte etwas und kam knapp vor einem Laternenpfahl zum Stehen.
»Okay, noch einmal die Polizei. Ich versuche, hinter ihr zu bleiben.«
Es war nicht ganz einfach, auf der schneeglatten, ansteigenden und engen Straße zu wenden, und als wir endlich die Hauptstraße wieder erreicht hatten, war Uschis Wagen nicht mehr zu sehen.
»Autobahnzubringer!«
»Natürlich!«
Meine eiskalten Hände verkrampfen sich zu Fäusten. Ich hatte meine Handschuhe vergessen, aber gegen die innere Kälte hätten auch die vermutlich nichts genützt. Marc fuhr konzentriert und schnell und unter Missachtung aller gängigen Verkehrsregeln. Wir kamen zur Autobahnauffahrt. Hier waren dunkle Spuren in der matschigen Schneedecke, vereinzelte Fahrzeuge rauschten auf der Gegenfahrbahn vorbei. Vor uns waren nur die roten Rücklichter eines einzigen Wagens zu sehen. Marc beschleunigte derart, dass ich in den Sitz gepresst wurde.
»Was tust du?«
»Das wird sie sein. Da vorne. Siehst du, wie unsicher der Wagen die Spur hält?«
Er hatte Recht. Das Auto schlingerte auf der Fahrspur, manchmal kam es den Leitplanken gefährlich nahe.
»Was können wir tun?«
»Versuchen, sie auszubremsen. Hoffentlich bleibt die Strecke so ruhig!«
»Du riskierst deinen Wagen.«
»Sicher.«
»Und unser Leben!«
»Das nun doch nicht!«
Er grinste. Es machte ihm wirklich Spaß.
Uschi fuhr zwar unsicher, aber erschreckend schnell. Marc holte nur langsam auf. Dann aber kam uns allen das Schicksal in die Quere. In Form eines Streufahrzeugs, das langsam auf der rechten Spur vorankroch. Uschi sah das gelbe Blinken wahrscheinlich viel zu spät. Die Bremsleuchten flammten auf, der Wagen wurde nach links verrissen, prallte an die Leitplanke des Mittelstreifens, drehte sich, rutschte uns entgegen.
Marc riss ebenfalls das Lenkrad herum, wich um Haaresbreite dem Zusammenstoß aus, drehte sich ebenfalls quer zur Fahrbahn. Er riss die Gänge herunter, wollte wieder in Fahrtrichtung wenden, als Uschi - sie war es, ich erkannte ihr Gesicht hinter der Windschutzscheibe - in die entgegengesetzte Richtung durchstartete.
»O Gott, nein!«
»Nein, da mache ich nicht mit«, sagte Marc, fuhr an den Randstreifen und stellte die Warnblinkanlage an. »Es ist auch nicht mehr nötig. Schau!«
Die Autobahn leuchtete in zuckendem Blaulicht.
»Die müssen kurz hinter uns gewesen sein.«
»Vermutlich. Gehen wir.«
Uschi war nicht weit gekommen. Vielleicht dreihundert Meter entfernt blockierten die Streifenwagen die Straße. Uschis demolierter Wagen stand davor, und zwei
Uniformierte hielten sich an der Fahrertür auf. Ein dritter kam auf uns zu. Er stellte sich förmlich vor und fragte dann, ob wir Zeuge des Vorfalls seien.
»Ich habe Sie angerufen. Meine Mutter!« Ich wies auf Uschi, die heulend und fluchend auf die Polizisten einschimpfte. »Sie hatte angedroht - ach, was weiß ich. Vielleicht wollte sie wirklich nur zu der Stelle, an der mein Vater verunglückte. Aber sie schien mir nicht ganz Herr ihrer Sinne zu sein, als sie mich vorhin anrief!«
»Sie hat
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