Der Siegelring - Roman
Dann ging sie zu dem Bett, in dem Valerius Corvus ruhig atmend schlief. Er schien kein Fieber zu haben.
»Wacht auf, Dominus. Der Morgen graut«, sagte sie leise.
Er schlug die Augen auf und sah sie etwas verwirrt an.
»Der Pfeil, die Wunde an Eurem Bein …«
»Ja, ich weiß.«
»Lasst mich noch einmal nach dem Verband sehen, dann helfe ich Euch beim Anziehen und bringe Euch hinaus.«
Der Verband war trocken, die Blutung offensichtlich gestillt. Auch die Schmerzen, sagte er, waren erträglich. Doch es brauchte eine ganze Weile, bis er mit seinem steif gewordenen Bein aufstehen konnte. Sehr langsam gingen sie den Weg hinauf zur Villa, und Annik befürchtete pausenlos, dass ein Frühaufsteher sie entdecken würde. Aber alles lag noch in tiefem Schlaf. Vor der Eingangstür blieb sie stehen und meinte: »Da Ihr die Nacht in Gebeten verbracht und anschließend einen langen Ritt absolviert habt, solltet Ihr Euch den heutigen Tag in Eure Zimmer zurückziehen und ruhen! Ich bringe jetzt noch Euer Pferd in die Ställe und sage dort das Gleiche.«
»Ich werde dir sogar gehorchen, Barbarin. Ich muss nämlich morgen wieder in die Colonia zurückkehren.«
»Kommt auf jeden Fall heute Abend noch einmal bei mir vorbei, damit ich den Verband wechseln kann. Es ist wichtig, Dominus! Vor allem, wenn Ihr wieder reiten wollt.«
»Ich komme nach der Cena.«
»Und denkt inzwischen darüber nach, wer von Eurem Kommen gewusst haben könnte.«
»Das habe ich schon getan. Ich weiß es nicht.«
»Dann überlegen wir später gemeinsam.«
In der Abenddämmerung sahen einige Gutsbewohner, dass ihr Herr das Haus der Töpferin aufsuchte, und zwei, drei Zungen wetzten sich an unziemlichen Vermutungen über seine Absichten.
Annik hatte ihn erwartet.
»Ihr seht besser aus als heute Morgen.«
»Ich habe deinen Rat befolgt und den Tag über geruht. Das Bein ist zwar etwas steif, aber gehen kann ich mit dem Stock ganz gut.«
»Trotzdem, Dominus - der Verband gehört gewechselt.«
Die Operation war einigermaßen schnell erledigt, Annik war zufrieden mit der Entwicklung der Heilung. Es gab zwar eine gerötete Schwellung, aber keine Anzeichen einer übermäßigen Entzündung.
»Sucht auf jeden Fall einen Arzt auf, wenn Ihr in der Colonia seid.« Sie zwinkerte ihm zu. »Am besten einen gallischen. Er wird beurteilen können, was ich getan habe.«
»Die gallischen Heiler sind mir zu rechthaberisch!«
»Ach ja? Das sind sie eigentlich nur zu störrischen römischen Patienten.«
»Ich werde die Sanftmut selbst sein, Barbarin!«
»Kann ein schwarzer Rabe sein Gefieder weiß färben?«
»Erscheine ich dir so unverbesserlich?«
»Nein, Dominus. Eigentlich nicht. Und nun wollen wir über den Vorfall reden. Denn mir sind einige Ungereimtheiten aufgefallen.«
»So? Lass hören.«
»Wieso seid Ihr nicht über die ausgebaute Straße gekommen? Ihr wisst doch, dass es im Wald gefährlich ist!«
»Natürlich habe ich die Straße benutzt, aber nach dem Steinbruch führt ein Weg zum Waldrand. Es ist eine Abkürzung. Ich nehme sie gewöhnlich.«
»Auf diesem Weg hat Euch der Pfeil getroffen.«
»Ja, unweit des Weihesteins.«
»Führt der Weg am Waldrand entlang oder durch die Bäume? Ich bin so weit noch nicht in diese Richtung gewandert.«
»Durch die Bäume, doch nicht tief durch den Wald.«
»Dominus, der Schuss muss aus kurzer Entfernung abgegeben worden sein, meint Ihr nicht auch? Es war dunkel, und zwischen Bäumen und Gehölz ist es schwer, ein bewegliches Ziel weit entfernt zu treffen.«
»Ich stimme dir zu. Und ich vermute sogar, dass der Schütze in einem Baum gesessen hat, denn der Pfeil kam von oben.«
»Die Einheimischen sind ausgezeichnete Schützen. Ich frage mich, warum nur Euer Bein getroffen wurde. Hätte man Euch umbringen wollen, wäre es sehr einfach gewesen, Euch den Pfeil in den Rücken zu schießen.«
Valerius Corvus sah sie mit Achtung an.
»In der Tat. Das Ziel wäre größer gewesen. Aber welchen Sinn kann es haben, mich zu verwunden?«
»Welchen Sinn konnte es haben, Ulpia Rosina zu erschrecken? Habt Ihr Euch persönliche Feinde gemacht?«
»Man könnte es fast meinen. Aber wir haben wenig Kontakt zu den Einheimischen, und ich kann mich nicht erinnern, mit einem von ihnen im Streit zu liegen.«
»Die Pächter?«
»Möglich, aber soweit ich es beurteilen kann, haben sie wenig Grund zur Klage.«
Annik nickte. Von Charal wusste sie, dass Valerius Corvus mit ihnen großzügige Verträge abgeschlossen
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