Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Mann, der praktisch alles hatte, was mit Geld zu kaufen war. Er hatte versucht, einen neuen Freundeskreis außerhalb der Welt des Films zu finden: Philosophen, Schriftsteller, Zirkuskünstler, Manager von Firmen aus der Nahrungsmittelindustrie. Anfangs hatte er das wie Flitterwochen empfunden, bis auch von seinen neuen Freunden die unvermeidliche Frage kam: »Hätten Sie nicht Lust, mal mein Drehbuch zu lesen?« Oder die zweite unvermeidliche Frage: »Ich habe da einen Freund/eine Freundin, die schon immer Schauspieler/in werden wollte. Würde es Ihnen was ausmachen, sich mit ihm/ihr mal zu treffen?«
Allerdings würde ihm das etwas ausmachen. Neben seiner Arbeit beschäftigte ihn noch anderes im Leben. Zum Beispiel flog er einmal im Monat nach Alaska, wo er in die erstbeste Bar ging, sich betrank, Pizza aß, durch die Natur wanderte, sich mit den Alten in den Dörfern unterhielt. Außerdem trainierte er zwei Stunden am Tag in seinem eigenen Fitnessstudio und war dennoch übergewichtig. Die Ärzte sagten, er könnte jederzeit Probleme mit dem Herzen bekommen. Ihn selbst interessierte seine körperliche Verfassung wenig, lediglich der Stress, unter dem er jede Sekunde des Tages stand, belastete ihn. Er wollte abschalten, seine Seele zur Ruhe kommen lassen. Wenn er in Alaska war, fragte er immer die Menschen, denen er zufällig begegnete, wie das »normale« Leben aussah, denn er selbst wusste es längst nicht mehr. So unterschiedlich die Antworten ausfielen, so fremd waren ihm alle, und er fühlte sich dann mutterseelenallein, obwohl er ständig unter Menschen war.
Mit der Zeit legte er aus den Antworten, die ihm die Leute auf seine Frage gaben, was ein normales Leben sei, eine Liste an.
Javits blickt um sich. Da sitzt ein Mann mit Sonnenbrille und trinkt einen Fruchtsaft. Er wirkt so, als ginge ihn seine Umgebung nichts an, und sieht versonnen aufs Meer. Er ist grauhaarig, gutaussehend und elegant gekleidet. Er war als einer der Ersten gekommen, schien auch zu wissen, wer er, Javits, war. Dennoch hatte er keine Anstalten gemacht, sich vorzustellen. Außerdem hatte er den Mut, allein zu sein! Alleinsein ist in Cannes ein Fluch und gilt als Zeichen dafür, dass dir Bedeutung und Kontakte fehlen.
Javits beneidet diesen Mann. Nichts an ihm scheint in seine »Inventurliste des Normalen« zu passen, die er immer bei sich trägt. Er wirkt unabhängig, frei, und wäre Javits nicht so müde, würde er sich gern mit ihm unterhalten.
Javits wendet sich an einen der »Freunde«.
»Was bedeutet es, normal zu sein?«
»Haben Sie einen Gewissenskonflikt? Haben Sie etwas Unrechtes getan?«
Javits hat dem falschen Mann die falsche Frage gestellt. Wahrscheinlich glaubt sein »Freund« nun, er bereue sein bisheriges Leben und wolle neu anfangen. Doch das war nicht der Fall. Und selbst wenn er es bereute, so war es bereits zu spät, um neu anzufangen. Javits kennt die Spielregeln.
»Ich frage mich, was es heißt, normal zu sein.«
Einer der »Freunde« ist verwirrt. Der andere blickt weiter um sich, behält den Zelteingang und die Gäste an den Nebentischen im Blick.
»Normal sein heißt, ohne irgendwelche Ambitionen zu leben«, sagt er schließlich.
Javits zieht die Liste hervor und legt sie auf den Tisch.
»Ich trage sie immer bei mir. Und füge ständig neue Punkte hinzu.«
Der eine »Freund« meint, er könne sich die Liste jetzt leider nicht ansehen, weil er aufpassen müsse. Der andere hingegen, der entspannter und selbstsicherer wirkt, beugt sich herüber und liest:
»Normal ist,
1) dass wir unsere wahre Identität und unsere Träume vergessen und nur noch arbeiten, um zu produzieren, zu reproduzieren und Geld zu verdienen;
2) dass wir Regeln für den Kriegsfall haben (die Genfer Konvention);
3) dass wir jahrelang studieren und später doch keine Arbeit finden;
4) dass wir täglich von neun bis siebzehn Uhr einer Arbeit nachgehen, die uns überhaupt keinen Spaß macht, nur damit wir dreißig Jahre später in Rente gehen können;
5) dass wir in Rente gehen und dann herausfinden, dass wir keine Energie mehr haben, um das Leben zu genießen, und wenige Jahre darauf an Langeweile sterben;
6) dass es nichts Besonderes ist, Botox zu verwenden;
7) dass wir nach finanziellem Erfolg anstatt nach Glück streben;
8) dass derjenige lächerlich gemacht wird, der nach Glück strebt, anstatt nach finanziellem Erfolg;
9) dass wir unser Leben über unsere Besitztümer definieren, anstatt herauszubekommen, wozu wir
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