Der Sieger von Sotschi: Ein olympischer Roman (German Edition)
sich selbst überhaupt nicht vorstellen, aber trotzdem korrigierte er den jungen Mann nicht: Ein Gentleman ignoriert solche Fettnäpfchen.
Sie betraten einen Saal mit Bar, hellem Parkett und ein paar Bildern an der Wand. Die Tische waren in eine Ecke zusammengeschoben worden, um Platz zu schaffen. Eine Regenbogenfahne konnte Richard aber nicht entdecken. Die Leute begrüßten ihre Gäste mit Applaus; die meisten von ihnen schienen Studenten oder zumindest in dem Alter zu sein. Die Männer überwogen in der Anzahl der Gäste deutlich, doch Vanessa war nicht die einzige Frau. Der Applaus brandete nochmals auf, als Stas nun die Gäste vorstellte und diese ihre Medaillen unter den Jacken hervorkramten – besonders in dem Moment, als Fabian einen Arm um Florians Schultern legte.
Der Chef der Bar reichte Drinks und brachte einen Toast aus auf den ersten schwulen Goldmedaillengewinner. Dann erhielt Fabian gleich ein Mikrofon. Richard zuckte im ersten Moment innerlich zusammen, denn er war aus seiner Heimat gewohnt, der Mittelpunkt zu sein, wenn kein höherrangiges Mitglied der Königsfamilie anwesend war, doch hier waren die Studenten und anderen jungen Leute selbstverständlich am schwulen Olympiasieger interessiert.
„Ich möchte mich für die Einladung herzlich bedanken“, begann Fabian auf Englisch. „Es freut mich sehr, dass ihr so zahlreich gekommen seid, obwohl ja alles sehr spontan war. Das Treffen ist privat in einer geschlossenen Gesellschaft, denke ich. Deshalb muss ich diejenigen bitten, die so eifrig ihre Handys und Smartphones in die Höhe recken, die Aufnahmen auch nur für private Zwecke zu verwenden und nicht auf allgemein zugänglichen Social Media zu posten. So weit das Kleingedruckte.“ Der Schweizer blickte Stas an, der das daraufhin ins Russische übersetzte.
Es schien sich eine Art Podiumsgespräch zu entwickeln, zu dem sie sich auf Barhockern vor die neugierige Menge setzten. Fabian musste gleich korrigierend eingreifen, er sei nicht der Erste, denn da gäbe es ja auch Matthew Mitcham, Carl Hester und bestimmt mindestens einen, den er jetzt vergessen habe, aufzuzählen – und zudem selbstverständlich etliche lesbische Goldmedaillengewinnerinnen. Jeder musste ein paar Worte darüber sagen, wie toll er oder sie es fände, hier zu sein. Die erste Frage richtete sich dann an Florian und Fabian: wie ihr Team mit einem gleichgeschlechtlichen Paar zurechtkomme.
„Justin unterstützt mich sehr und ansonsten wird kein Wort darüber gesprochen: Man konzentriert sich auf die Rennen. Ich bin sehr dankbar, dass meine beiden Zimmergenossen Prinz Richard und Justin kein Problem mit mir haben.“
„Ich spüre schon, dass manche sich in meiner Gegenwart unsicher fühlen“, meinte Florian.
„Fabian, können Sie in Ihrem Tal in der Schweiz mit Florian Hand in Hand durchs Dorf gehen?“
„Nö!“, machte Fabian kalt. Da ging doch ein starkes Raunen durch die Zuschauer. „Also oben bei mir in Braunwald gab es 62,7 Prozent Zustimmung zum Partnerschaftsgesetz, da werden Florian und ich es versuchen. Aber unten in Linthal bei 37,3 Prozent kannst du es vergessen.“
„Luchsi bezieht sich auf eine Volksabstimmung für
civil unions
in der Schweiz“, ergänzte Justin. „Es geht um eine offizielle Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare, die dieselben Rechte und Pflichten beinhaltet wie die Ehe, abgesehen von der Fortpflanzungsmedizin und Adoption. Landesweit gab es 58 Prozent Ja-Stimmen und damit trat das Gesetz überall in Kraft, auch in Linthal.“
Stas musste alles kurz in der Landessprache zusammenfassen, da wohl nicht alle ausreichend Englisch verstehen konnten.
„Was sagen deine Eltern, Fabian, zur Medaille und zum Coming-out?“
„Ich wuchs in Bergdorf Elm auf, das noch ein Prozent weniger Ja-Stimmen für uns übrig hatte als Linthal. Mit sechzehn flog ich dort aus dem Elternhaus raus. Seither lebe ich bei meinem Onkel und seiner Familie in Braunwald. Der Kontakt zu meinen Eltern ist eingeschlafen. Sie haben mir bis jetzt keine Gratulation zur Goldmedaille geschickt.“
„Bei mir hat man es mit einem leisen, aber dennoch hörbaren Seufzer aufgenommen“, ergänzte Florian, „aber Fabian ist bei mir zu Hause in Deutschland selbstverständlich willkommen.“
Einer aus dem Publikum bemerkte, dass sie in Russland in Jubel ausbrechen würden, wenn sich hier 36,7 Prozent der Leute eine eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft vorstellen könnten. Ein anderer fragte, ob diese
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