Der Sieger von Sotschi: Ein olympischer Roman (German Edition)
empfanden, als ob Königin Viktoria noch auf dem Thron säße. Wenn er es richtig bedachte, hatte auch er eine Art Coming-out vor sich und das bereitete ihm zunehmend Bauchschmerzen.
Fabian und Florian saßen schweigend dicht beieinander, während Justin, Stas und Vanessa über die rechtsextreme Szene diskutierten. Dabei erzählte Stas von einem Südafrikaner, der in der Universität von Belgorod als Austauschstudent eingeschrieben war. Vor laufender Kamera haben russische Neonazis ihn gequält, gedemütigt und das Video ins Internet gestellt. Als der Südafrikaner Anzeige erstattet hatte, wurde er umgehend exmatrikuliert. Das sei vor drei Monaten geschehen und leider kein Einzelfall.
Richard begnügte sich damit, Vanessas Hand zu halten. Mitdiskutieren mochte er nicht, er fühlte sich wie von einer Zeitmaschine an die nationalsozialistische Olympiade von 1936 versetzt. Sein Handy meldete plötzlich eine SMS. „Wow! Die schräge Party hätte ich dem Musterprinzen nicht zugetraut! Respekt!“ Die Nachricht stammte von seinem älteren Bruder Harry, doch Richard fand sie überhaupt nicht komisch. Es war ja an diesem Abend nicht darum gegangen, besonders ungehörig ausgefallen zu feiern. Die SMS führte ihm vor Augen, wie viele Leute gar nicht verstanden, worum es bei Schwulen- und Lesbenrechten überhaupt geht, und bis vor ein paar Stunden hatte er auch dazugehört, musste er sich eingestehen.
Gleich nach einem längeren Tunnel schneite es in briefmarkengroßen schweren Flocken. Es war Zeit, wieder die Team-Skijacken anzuziehen. Im Endbahnhof „Alpika Service“ tröpfelte Regen auf das Plexiglasdach und Richard musste sich von Vanessa verabschieden, die in einem Hotel im Tal wohnte. Er versprach ihr, auf Justin aufzupassen. Der Abschied dauerte so lange, bis der Chauffeur des Pendelbusses ungeduldig die Hupe antippte, damit die Fahrt endlich losgehen konnte. Stas, der sich im Bus neben ihn setzte, fürchtete, die Chance sei ja jetzt groß, dass er morgen im Laufe des Tages gefeuert und der Schweiz ein anderer Guide zugeteilt würde. Richard versicherte ihm, er werde sich dafür einsetzen, dass eben dies nicht geschehe. Fabian war sich sicher, er würde noch eine Weile benötigen, um das an diesem Abend Erlebte zu verarbeiten, aber er war sich sicher, nun einen tiefen Einblick in ein gesellschaftliches Problem erlangt zu haben.
Oben auf dem frisch mit Neuschnee bedeckten Platz erwartete sie an der Pendelbus-Haltestelle bereits Saubauer. Er erklärte, er habe sich kurzfristig entschlossen, am nächsten Tag eine Skitour durchzuführen. Die Wolkenobergrenze werde auf zweitausend Meter sinken und das gehe sich dann doch aus. Stas werde den Bergführer machen und nur der Bodyguard solle sein Satellitenhandy mitnehmen, ansonsten seien keinerlei Telekommunikationsmittel erlaubt. Die kurzfristige Genehmigung, den knapp zwanzig Kilometer entfernten Dreitausender Agepsta zu besteigen, hätte das Team den ausgezeichneten Beziehungen von Bernhard Russi zu Vladimir Putin zu verdanken. Da der Berg auf der Grenze zu Georgien beziehungsweise der umstrittenen Provinz Abchasien liege, sei das normalerweise nicht möglich.
„Und Vanessa?“, fragten Richard und Justin gleichzeitig.
„Wenn die Signorina das mag und es unterwegs ihretwegen keine Hahnenkämpfe gibt, soll es mir recht sein.“
„Dazu muss ich dir etwas erzählen“, sagte Justin leise zu Saubauer.
„Wir können uns morgen auf der Tour sprechen. Treffen um halb fünf hier! Medaillen gebt ihr gleich jetzt am Informationsschalter vor der Kabine zum Einschließen ab. Gute Nacht!“
Letzteres sollte wohl bedeuten, darüber gäbe es keine Diskussion. Fabian voraus gingen sie die Treppe zu den Häusern hoch. Saubauer besprach noch etwas mit Stas und James. Als er am Eingang der Kantine vorbeiging, meinte er, nach der Sache in Sotschi traue er seinem Rucksack als Tresor mehr als den Russen. Daraufhin verzichteten auch Justin und Florian auf den Gang zum Informationsschalter. Bei Richard stellte sich das Problem leider gar nicht – noch nicht, hoffte er und tippte im Gehen eine SMS an Vanessa, damit sie wegen der Skitour Bescheid wisse. Die Idee des Coachs, die Mannschaft dem drohenden Medienansturm zu entziehen, sei eine gute Idee, fand sie in ihrer Antwort. So könnten alle den Kopf wieder frei kriegen.
Fabian, Justin, Florian und Stas diskutierten noch lange in der Wohnküche über Fragen zum Coming-out und der bedrückenden Situation der Schwulen und Lesben in
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