Der silberne Falke - Fox, K: Der silberne Falke: Historischer Roman
und nicht in diesem dunklen, feuchten Grab!
Marguerite liefen die Tränen über das Gesicht. Sie würde nie wieder auf seinem Schoß sitzen und seinen Geschichten lauschen, nie wieder von ihm auf die Nase geküsst werden, das begriff sie jetzt. Warum hatte er sie nur allein gelassen?
»D u bist gemein! « , rief sie gedämpft gen Himmel und dann lauter: »I ch hasse dich, weil du weggegangen bist! «
Ein Donnerschlag krachte. Marguerite zuckte vor Schreck zusammen, verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Baum.
»M arguerite! « , rief ihre Mutter von weitem und eilte auf sie zu. » H ast du dich verletzt? «
Marguerite spürte einen brennenden Schmerz auf der Stirn und am rechten Knie, schüttelte aber tapfer den Kopf. Blut lief ihr über die Augenbraue und vermischte sich mit ihren Tränen. »E s tut mir leid « , wimmerte sie. »I ch habe es nicht so gemeint! «
Alix de Hauville kniete sich auf den morastigen Boden, nahm ihr Kind in den Arm und wiegte es. Sie weinte ebenfalls und küsste Marguerite. »I st nicht so schlimm, nur eine Schramme auf der Stirn « , tröstete sie Marguerite.
»H ast du den Donner gehört? « Marguerite schluchzte. » S icher ist Vater böse mit mir, weil ich ihn ausgeschimpft habe « , sagte sie kläglich.
»N ein, mein Herz, aber er will nicht, dass du traurig bist. Glaub mir, es geht ihm gut, denn er ist beim Herrn « , erwiderte sie sanft und wiegte Marguerite weiter, bis sie sich beruhigt hatte.
Juni 1189
E nid weinte weder, noch zeterte sie, als er ihr sagte, dass er dem Wald für immer den Rücken kehren wolle. Sie schaute nur hilflos zu David und schüttelte traurig den Kopf. Kein Vorwurf kam über ihre Lippen. In ihrem Blick standen nur stumme Trauer und Angst.
»K omm mit mir « , bat William sie eindringlich wie schon unzählige Male zuvor. Enid erwartete ein Kind. Sein Kind. Aber sie weigerte sich, den Wald zu verlassen.
William wusste, dass sie sich vor den Menschen fürchtete und Angst um David hatte, doch er selbst sehnte sich zu sehr nach den Falken und verkümmerte in der Einsamkeit des Waldes. »I ch muss aber gehen! « , fuhr er Enid nun ungewollt heftig an und stürmte wutentbrannt aus der Hütte.
Er ließ die winzige Lichtung hinter sich und rannte, so schnell er konnte. Nur weg!, dachte er bitter. Er war schon viel zu lange hier; ein ganzes Jahr hatte er bereits bei Enid verbracht. Doch während er mit langen Schritten durch den Wald marschierte, verrauchte sein Zorn allmählich. Nachdem er den dichtesten Teil des Waldes hinter sich gelassen hatte, lief er zusehends langsamer. Bald schlenderte er nur noch, stieg bergan und erklomm den Kreidefelsen, von dem aus man herrlich weit ins Tal sehen konnte.
Viele Male war er in den letzten Monaten hier oben gewesen und hatte seinen Träumen von der Falknerei nachgehangen. Wie sehr ihm die stolzen Vögel fehlten!
William setzte sich auf den bemoosten Felsen, legte die Hände auf den warmen Stein und starrte hinab. Wenn er von hier oben Beizjagden beobachtete, stellte er sich stets vor, wie es wäre, dabei zu sein. Die Welt der Falkner war so viel bunter und anziehender als das einsame Leben im Wald. Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach, wieder dazuzugehören. Niemals hatte er vorgehabt, so lange im Wald zu bleiben. Hätte das Schicksal ihm nicht Enid über den Weg geschickt, wäre er längst zu den Menschen, vor allem aber zu den Falken zurückgekehrt. Irgendwie wäre es ihm gewiss gelungen.
William seufzte. Anfangs war es Enids triebhafte, leidenschaftliche Art gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, im Wald bei ihr zu bleiben. Später hatte er begriffen, dass sie ihm mehr bedeutete als nur eine Gefährtin, mit der er das Lager teilte. Sie war der ungewöhnlichste Mensch, den er kannte, wild und gleichzeitig scheu, wie ein ungezähmtes Tier. Geheimnisvoll und schön, weise und naiv, herzensgut und manchmal eiskalt. Enid war starken Willens und trotzdem anlehnungsbedürftig. Ihre beinahe kindliche Anhänglichkeit gab ihm das Gefühl, gebraucht zu werden. Und ihre aufopferungsvolle Liebe zu David rührte ihn zutiefst. Sie wusste so viel über die Pflanzen und Tiere des Waldes, über die Befindlichkeiten der Menschen jedoch so wenig! Wie sehr William die Falknerei fehlte, begriff sie einfach nicht.
Er schnaufte erbittert. Vielleicht war es in der Tat an der Zeit für ihn zu gehen. Er blickte ins Tal und entdeckte einen Falkner mit seinem Gehilfen. Die beiden Männer trugen einen Vogel auf das
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