Der silberne Sinn
Kartenexperimenten durchführen, mit denen er die Existenz der Telepathie nachgewiesen haben will.«
»Wann ist das gewesen?«
Accolon kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, wobei ihm die Baseballkappe in die Stirn rutschte. Er schien es nicht einmal zu bemerken. »Soweit ich mich erinnere, war es 1933.«
Yeremi wechselte einen viel sagenden Blick mit Saraf. Sie war wie elektrisiert: Hanussen bietet der USA Unterstützung zur Gründung eines eigenen Medusa-Projektes an, anschließend wird er ermordet, aber die Vereinigten Staaten haben längst Blut geleckt und treiben das Programm mit Macht weiter voran. Accolons Aussagen deckten sich hundertprozentig mit ihren Vermutungen. Vielleicht war es der ominöse Doktor W. Baecker gewesen, der dem Militärgeheimdienst G-2 versprochen hatte, die durch Hanussens Tod gerissene Lücke zu schließen. Sie musste Accolon unbedingt danach fragen.
»Kennen Sie zufällig einen Deutschen namens…«
»Wir bekommen Besuch!«, stieß Saraf hervor und besaß sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
»W-was…«, stammelte Yeremi, ohne ihre Frage zu beenden.
»Ich spüre jemanden, einen bekannten Geist, der starke Furcht empfindet. Seine Gefühle sind wie trockenes Holz, das beim geringsten Funken Feuer fängt.«
»Verstehst du, was er meint?«, fragte Sandra ängstlich.
»Wer immer sich da nähert, neigt zu Kurzschlussreaktionen«, übersetzte Yeremi.
Accolon starrte den Silbermann verblüfft an. Im nächsten Moment ertönte auch schon das schnell anschwellende Geräusch eines Motorrades. »Ich habe nie einen Menschen gesehen, in dem die Gabe so stark ist!«, stieß der Major hervor und machte Anstalten zu fliehen, doch Saraf packte ihn am Oberarm.
»Es ist zu spät. Er wird jeden Moment hier sein.«
»Und was sollen wir jetzt tun?«, jammerte Sandra.
»Stellt euch an die Wand, möglichst weit auseinander – dort, da und da.« Saraf deutete auf verschiedene Stellen, als wolle er die vier Himmelsrichtungen anzeigen.
»Schnell!«, sagte Yeremi und scheuchte die Journalistin und den Major wie verängstigte Schafe aus dem Zentrum des Raumes – keinen Moment zu früh. Kaum hatten sie sich an der Wand verteilt, erschien schon der Schemen des angekündigten Besuchers in der sonnendurchfluteten Tür.
Saraf stand dem Eingang direkt gegenüber, Auge in Auge mit dem reglosen Schattenriss. Der Fremde trug einen Motorradhelm, viel mehr konnte Yeremi, die sich rechts von ihrem Schützling befand, im Gegenlicht nicht erkennen. Ihr Körper klebte förmlich an der Wand, nur ihre Augen sprangen hin und her. Sie atmete flach, und ihre Knie waren wie Wachs, das langsam, aber sicher zu schmelzen begann.
Der Mann in der Tür hatte sich noch immer nicht bewegt. Konnte er Saraf nicht sehen, oder wollte er es nicht? Yeremi glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben, als der Fremde plötzlich in die Mühle trat. Er lief beinahe gemächlich bis zu der Pumpenwelle im Zentrum des Raumes, klappte das Visier seines Helmes hoch und begann sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Seine in einer schwarzen Ledermontur steckende massige Statur suggerierte das Bild eines in die Jahre gekommenen Rockers. Unwillkürlich kamen Yeremi die Worte ihres Großvaters während der Verfolgung durch das Motorrad in den Sinn. Er hatte von einem »korpulenten Gartenzwerg am Lenker« gesprochen. Sie konnte diese Einschätzung nur bedingt nachvollziehen. Jedenfalls hatte sie noch nie einen Gartenzwerg mit Pistole gesehen.
Inzwischen hatte der gedrungene Unbekannte seine Pirouette fast vollendet. Yeremi trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Der Lauf der matt schimmernden Waffe in seiner rechten Hand war jetzt unmittelbar auf sie gerichtet. Sie konnte ihm direkt ins Visier blicken. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Es war der Angler.
Die buschigen, außen so auffällig verzwirbelten Augenbrauen würde sie so schnell nicht vergessen. Sein glasiger Blick kreuzte sich nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde mit dem ihrigen. Vielmehr sah es so aus, als suche der Angler etwas, das sich über den Köpfen der wie Steinfiguren dastehenden Menschen befand. Als er die Holztreppe entdeckte, versteifte sich sein Körper für einen kurzen Moment. Dann lief er schnell darauf zu. Ungläubig verfolgte Yeremi seinen Aufstieg über die knarrende Stiege. Die Menschen im Untergeschoss würdigte er keines Blickes.
Sobald der Angler den oberen Raum erreicht hatte, deutete Saraf stumm zum Ausgang hin. Accolon verstand die
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