Der silberne Sinn
dreihundertsiebzig Dissidenten zur ›Begutachtung‹ eingewiesen wurden, wie es im offiziellen Jargon heißt. Die Betroffenen sehen das anders. ›Folter mit Neuroleptika‹, so nannte es Vladimir Sidorov, ein Arbeiter, der wegen ›antisowjetischer Gedichte‹ inhaftiert worden war.«
»Wenn das nur der sichtbare Teil der eisigen Wahrheit ist, was verbirgt sich dann unter der Oberfläche?«
»Die Sowjets haben, vor allem zur Zeit des Kalten Krieges, massive Anstrengungen unternommen, sich im Rüstungswettlauf durch parapsychologische Methoden Vorteile gegenüber den USA zu verschaffen. Bei der DIA liegt in einer gut verschlossenen Schublade ein Geheimpapier, demzufolge die UdSSR ebenso über Hellseher verfügte wie über Wunderkinder, die Gegenstände durch die Luft fliegen lassen konnten. Ach ja, Telepathen hatten sie selbstverständlich auch!«
»Und wie reagierte Washington darauf?« Yeremi konnte es sich längst denken, denn zu diesem Thema waren ihr schon zahlreiche Gerüchte und Vermutungen zu Ohren gekommen, wenngleich eine Bestätigung aus erster Hand bisher fehlte.
»Durch eine Reihe streng geheimer Gegenprogramme: Sun Streak, Grill Flame, Center Lane, ScanAte… Der CIA und die Army haben sich im Erfinden neuer Codenamen gegenseitig übertroffen. 1991 übertrug die DIA ihre Aktivitäten der SAIC – steht für Science Applications International Corporation. Die nannten ihr neues Baby dann Star Gate.«
»Ich dachte immer…«
»Das sei ein Sciencefictionfilm?« Accolon lachte freudlos. »Ich weiß. Hollywood hat diesen Namen erst viel später für sich entdeckt. Die Anfänge des echten Star-Gate-Projektes dürften bis ins Jahr 1972 zurückreichen. In den Achtzigerjahren wurden die parapsychologischen Forschungen dann mit besonders viel Energie und finanziellem Aufwand vorangetrieben. Ich habe maßgeblich daran mitgewirkt.«
»Das scheint Sie nicht mit Stolz zu erfüllen.«
»Heute kommt mir das, was wir damals getan haben, wie der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan vor. Es hat Rückschläge gegeben, die mein Gewissen bis heute schwer belasten. Ich habe mich dann in eine andere Einheit versetzen lassen.«
»Was ist passiert?«
Accolon wich Yeremis forderndem Blick aus und sah stattdessen Saraf an. Mit einem Mal begannen sich seine Augen zu weiten, und er wandte sich wieder Yeremi zu. »Es stimmt tatsächlich, oder?«
»Was?«
»Dieses Silberne Volk – es kann die Gefühle von Menschen lesen und manipulieren. Wäre ich nicht darauf trainiert, würde mir die Begabung dieses Mannes vermutlich nicht auffallen.«
»Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet, Accolon. Welche Rückschläge hat es in dem geheimen PSI-Programm gegeben?«
»Man wollte einige Menschen gezielt manipulieren, damit sie im Sinne der amerikanischen Sicherheitspolitik handeln, aber der Schuss ging nach hinten los. Es gab Unglücksfälle. Tote!«
»Und das alles ist vor zwanzig Jahren geschehen?«
»Das Verhängnis hat schon viel früher seinen Lauf genommen, und die Folgen reichen bis in die Gegenwart. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird alles außer Kontrolle geraten.«
»Können Sie nicht deutlicher werden, Accolon? Ist Mental Health in diese Unglücksfälle verwickelt gewesen? Was genau ist passiert?«
Der Army-Veteran blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon zu viel darüber gesagt. Jedes weitere Wort könnte mich den Hals kosten.«
Yeremi fühlte den inneren Widerstand des pensionierten Majors. Auf diesem Weg würde sie nicht weiterkommen. »Vielleicht können Sie mir noch eine unverfänglichere Frage beantworten. Sie sagten eben, die Anfänge oder Vorläufer von Star Gate lagen weit vor Ihrer aktiven Dienstzeit. Ich interessiere mich hauptsächlich für die Geschichte der Telepathieprogramme. Was wissen Sie über die frühen Forschungen auf diesem Gebiet? Wann hat man damit begonnen?«
»So genau kann ich das nicht sagen«, antwortete Accolon, sichtlich dankbar für Yeremis Verständnis. »Mein Schwerpunkt war ja die Fernwahrnehmung: das Auffinden eines abgestürzten Sowjetbombers im Dschungel von Zaire oder die Rückbringung gestohlener Nuklearwaffen aus Zululand. Politiker und Militärs bedienten sich zu allen Zeiten der ›Begabungen‹ ihrer Seher. Was jedoch die wissenschaftliche Erforschung der Telepathie betrifft… Ich glaube, die ersten ernsthaften Ansätze dazu hat es an der Duke-Universität in Durham, North Carolina, gegeben. Doktor J. B. Rhine ließ damals Tausende von
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