Der Simulator
neunstelligen Summe auszustatten gedenke.
Ein Raunen ging durch den Saal. Die roten Aufnahme-LEDs der TriVid-Doppelkameras blinkten hektisch und zwei filmende Minihubschrauber umkreisten uns in kurzer Entfernung. Das brachte Kowalski kurz aus dem Konzept. Mit einer Handbewegung verscheuchte er sie.
Doch auch diese beachtliche Summe würde sicherlich auf Dauer nicht genügen, fuhr er dann fort. Deshalb müsse der Simulator auch kommerzielle Aufträge annehmen, in begrenzter Form, wie er betonen wolle, in sehr begrenzter Form. Diese Aufträge dienten einzig und allein der Finanzierung des eigentlichen Zwecks des Simulators, der Erforschung der menschlichen Gesellschaft. »Mit diesen neuen, atemberaubenden Möglichkeiten können und werden wir eine bessere Welt schaffen«, schloss er irgendwann.
Ein geschickter Schachzug, wie ich zugeben musste, ein genialer Schachzug. Das nahm den Interviewern den Wind aus den Segeln. Niemand konnte ernsthaft etwas gegen die große Utopie einwenden, die der Sinex-Chef hier mit vollmundigen Worten ausgebreitet hatte. Nur ich selbst wusste, welchen Zweck er mit dem Simulator wirklich verfolgte.
Dennoch kam diese unerwartete Wende auch mir entgegen. Ich wusste zwar, dass Kowalskis Stiftung nur eine taktische Finte war, je mehr er sich aber öffentlich festlegte, desto schwieriger wurde es für ihn, den Simulator und damit auch meine Arbeit für seine selbstsüchtigen Zwecke zu missbrauchen. Jederzeit konnte man ihn an seinen Versprechungen messen.
»Und jetzt, meine Damen und Herren«, riss er mich aus meinen Gedanken, »wird der Direktor des Bereichs Simulatorik der Sinex AG, Herr Dr. Marc Lapierre, einige der Perspektiven skizzieren, die uns der Simulator eröffnet. Marc, Sie haben das Wort.«
Da saß ich also und musste mir etwas einfallen lassen. Glücklicherweise hatte ich Blinzle noch im Ohr, der jahrelang die ungeheuren Möglichkeiten der Experimentellen Simulatorik herauf-und heruntergebetet hatte.
Ich begann mit den Sinex-Milieus. Das konnte nicht schaden und war zudem Werbung für unseren wichtigsten Umsatzbringer. Auf diesem Feld fühlte ich mich sicher und ich gewann Zeit, mich an meine exponierte Stellung zu gewöhnen.
Dann erläuterte ich die Grundidee jedes Experiments: »In einem Experiment definiert man die Ausgangsbedingungen für verschiedene Gruppen von Probanden unterschiedlich und misst dann das Ergebnis.« Ich musste mich so einfach wie möglich ausdrücken. Vielleicht half ein Beispiel. »Stellen Sie sich vor, es beschäftigt Sie die Frage, ob man Kinder bereits mit drei Jahren, anstatt wie heute mit fünf Jahren einschulen sollte. In einem Experiment würde ich einhundert zufällig ausgewählte Kinder mit drei und andere einhundert zufällig ausgewählte Kinder wie gewohnt mit fünf Jahren einschulen. Dann beobachte ich, wie sie sich entwickeln, messe Intelligenz, Schulerfolg, beruflichen Werdegang und anderes mehr. Auf dieser Grundlage kann ich eine klare Entscheidung treffen, welche der beiden Alternative die bessere ist.«
»Brauchen wir dazu einen Simulator? Könnte man das nicht auch in der wirklichen Welt machen?« wandte jemand ein.
Ich wunderte mich über die Naivität dieser Frage. Oder hatte Kowalski einen Stichwortgeber eingeschleust? »Ein solches Experiment verbietet sich aus ethischen Gründen. Oder glauben Sie, Sie würden Eltern finden, die ihre Kinder dafür hergeben würden?« Einige der Anwesenden lachten. Ganz sicher, ob man meine Frage verneinen musste, war ich mir allerdings nicht.
»Und es gibt einen zweiten, genauso wichtigen Punkt. Den Zeitaspekt.« Ich ließ meinen Zuhörern Zeit, selbst darüber nachzudenken. »In unserer eigenen Wirklichkeit würde das Schulexperiment Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Im Simulator haben wir die Option, den Zeitablauf zu beschleunigen. Bald können wir einhundert Jahre in wenigen Tagen simulieren, vielleicht sogar in wenigen Stunden.«
Bis dahin war noch ein langer Weg, aber das brauchte die Öffentlichkeit jetzt nicht zu wissen. Außerdem musste dann der Simulator jedes Mal zurückgesetzt und neu programmiert werden, was in Zukunft ebenfalls ethische Probleme aufwerfen mochte. Wer konnte wissen, ob es nicht irgendwann eine Bewegung für die Rechte der Reaktionseinheiten gäbe?
Dann schmückte ich meine Rede aus. Von der Schule kam ich auf die Erziehung im Allgemeinen, auf das Berufsleben, das Rentenalter. Ich fragte nach der optimalen Beziehungsform, der bestmöglichen Ernährung und
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