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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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fuhr ich mein Büro hinauf. Stefan Kurz hatte ich unserem Sanitäter überlassen, aber offenbar war er in Ordnung.
    Obwohl ich völlig erschöpft sein musste – ich war seit fast dreißig Stunden auf den Beinen – spürte ich die Müdigkeit nicht. Ich kam mir vor, als hätte ich literweise Kaffee getrunken. Eine innere Anspannung, die mich zittern ließ, eine Erregung, die meinen Körper durch und durch in Besitz genommen hatte und an Angst grenzte.
    Zuerst konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Gleichgültig, wo ich anfing, ich drehte mich im Kreis. Erst nach und nach beruhigte ich mich.
    So abenteuerlich Löwitschs Geschichte klang, keinen Augenblick zweifelte ich daran, dass sie wahr war, dass sie wahr sein musste. Schon auf den ersten Blick erklärte sie vieles, wenn nicht alles.
    Wir selbst lebten in einem Simulator. Das war seine ungeheuerliche Botschaft. Auch wir waren nichts anderes als simulierte Wesen, armselige Reaktionseinheiten, mehr nicht. Dort draußen gab es irgendwo die wirkliche Welt. Eine Wirklichkeit, die mit der Realität, in der wir lebten, so wenig gemein hatte, wie unsere Welt mit jener unseres Simulators. Eine Kopie der Kopie, jede davon unvollkommener und ärmer.
    Für einen Augenblick schwindelte mir angesichts dieser Erkenntnis. Um wie viel detailreicher, vielfältiger, ja, reicher musste die wirkliche Wirklichkeit sein! Wenn ich von unserer eigenen Simulation ausging, dann wäre sie das in einem Ausmaß, das unsere Vorstellungskraft überstiege. Genauso wenig wie ein von Geburt an Blinder sich Farben vorstellen konnte, wären wir Menschen in der Lage, die Vielfalt der Welt unserer Schöpfer zu erahnen.
    Meine Finger strichen über die Tischplatte, über das matte Glas des Bildschirms. Ich sah mich im Raum um, sah zu meiner großen Zimmerpflanze in der Ecke, zum Fenster, in dem sich das letzte Licht des Tages verlor. Plötzlich kam mir alles grau vor, leblos, tot. Trostlos. Mit dem Leben schien auch der Sinn aus den Dingen zu sickern.
    Irgendwo gab es den großen Steuermann, nein, nicht Blinzle, sondern seinen und meinen Schöpfer. Hatte er uns nach seinem Ebenbild erschaffen? Wozu waren wir überhaupt erschaffen worden? Vielleicht waren wir nur Teil eines großen Computerspiels, mit dem ein Halbwüchsiger sich die Zeit vertrieb. Gott war dann ein pubertierender Jüngling mit einem Hang zum Sadismus.
    Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich vorsehen. Selbstmitleid führte mich geradewegs in die Depression. Auch wenn ich nicht wusste, wozu, ich musste einen klaren Kopf bewahren, musste die Situation so sachlich wie möglich analysieren.
    Blinzle musste alles herausgefunden haben. Vielleicht spielte das geheimnisvolle Buch dabei eine Rolle, oder er hatte die Fakten für mich in einem Kompendium zusammengestellt, einer Kladde, die Löwitsch fälschlicherweise als Buch bezeichnet hatte. Aber natürlich konnte Blinzle seine Nachricht an mich so programmieren, wie er wollte. Vielleicht hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, eine Art Roman zu schreiben, oder er hatte die Buchform als Tarnung gewählt. Gab es etwas Unauffälligeres als ein Buch in einer Bibliothek?
    Die Zeichnung von Achilles und der Schildkröte fiel mir ein, jene Zeichnung, die Blinzle offenbar für mich angefertigt hatte und die auf unerklärliche Weise verschwunden war. Zenons Paradoxon. Das war der Kern des Rätsels. Damit hatte mir Blinzle sagen wollen, dass die Wirklichkeit einen Schritt weiter ist. So wie Löwitsch, der hier bei uns angekommen, sofort eine Ebene höher hatte eilen wollen. Und, wer weiß, vielleicht war die nächsthöhere Wirklichkeitsebene ebenfalls nur eine Simulation einer noch höheren. Die Schildkröte lief immer weiter. Wie die Wirklichkeit blieb sie uns einen Schritt voraus, unerreichbar.
    Ein Blinzle, der das Geheimnis des großen Simulators entdeckt hatte – das war der passende Name für unsere Welt – war zu einer Gefahr für den obersten Programmierer geworden, den großen Steuermann. Vermutlich hatte man sein und mein Experimentieren mit unserem lächerlich kleinen Simulator schon seit jeher misstrauisch verfolgt. Schließlich hätten auch wir die Versuche unserer Reaktionseinheiten unterbunden, einen eigenen Simulator zu bauen.
    Spätestens mit seiner Entdeckung hatte Blinzle sein kümmerliches Existenzrecht verwirkt. Er wurde mehr oder weniger unauffällig aus dem Weg geräumt. Wie hatte sich Bogdan ausgedrückt? Ausgeknipst, ausgeschaltet. Wir würden sagen: gelöscht.
    Auch

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