Der Skandal (German Edition)
»Detective Andersson hat sich trotz Suspendierung mehrfach Ihren Anordnungen widersetzt! Sie ist spontan, hitzig und in einer extremen emotionalen Situation! Andersson ist gefährlich! Wir können nicht riskieren, dass sie noch mehr Schaden anrichtet, haben Sie mich verstanden, Captain Muller?«
Sie nickt. Es ist das Beste, was man in dieser Situation tun kann, das weiß sie.
»Stoppen Sie sie!«, brüllt er. »Sofort! Egal, mit welchen Mitteln! Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, Captain! Ach, und wegen dieses Chauffeurs werden wir nichts nach außen geben, ist das klar?«
Das kann er doch nicht ernst meinen, denkt Muller und fragt betont naiv: »Und was sollen wir über die Identität des Toten sagen, Sir?«
»Lassen Sie sich was einfallen, Captain!« Er gibt ihr mit einer kurzen erschöpften Handbewegung zu verstehen, dass die Unterredung beendet ist.
Milosz, denkt sie, während sie aufsteht und zur Tür geht, dieser Fall wird dir den Hals brechen.
Als er den Anruf von Milosz bekommt, fragt Ochs sich gerade zum zweiten Mal, wo Tony bleibt. In den zwölf Jahren, seit er für Ochs arbeitet, hat er sich nie verspätet.
Noch Minuten, nachdem das Gespräch zu Ende ist, sitzt Ochs vornübergebeugt auf dem Stuhl am Esstisch, das Telefon in der Hand. Tony. Am dreiundzwanzigsten März wäre er fünfundvierzig geworden. Ochs merkt sich nicht viele Geburtstage, aber den von Tony hat er sich gemerkt. Weil Tony ein besonderer Typ war. So wie er selbst vielleicht. Aber Tony ist ohne Geld und ohne Vater aufgewachsen, ohne die Möglichkeit einer richtigen Ausbildung. Tony ist einer gewesen, der die Machtverhältnisse schnell durchschaut hat, der begriffen hat, wie ein System funktioniert. Einer, der gewusst hat, dass die Maschinerie rund läuft, wenn man an den richtigen Stellen schmiert – und dass manche Dinge aus der Welt geschafft werden müssen, bevor sie größeren Schaden anrichten können.
Ochs hat Tony schon ein Geschenk zum Geburtstag gekauft. Eine Rolex Submariner mit seinem Namen eingraviert. Sie liegt, in blau-goldenes Geschenkpapier verpackt, im Safe in seinem Arbeitszimmer. Er hat Tony nie etwas erklären müssen. Tony hat immer genau gewusst, worum es geht, was auf dem Spiel steht. Er war loyal – und er war ein Patriot. Hinter Ochs’ Augen zieht sich etwas zusammen und fängt an zu brennen. Die Tränen kommen einfach, er kann nichts dagegen tun. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal geweint hat. Als sein Vater gestorben ist? Ja, nach der Beerdigung, als alle weg waren und er mit Ginger, dem Cockerspaniel seines Vaters, den Weg am Seeufer entlangging, den sein Vater und Ginger zweimal täglich gingen. Ginger schien erst irgendwann unterwegs zu merken, dass ihn ein anderes Herrchen begleitete. Und in diesem Moment, Ochs erinnert sich genau, setzte sich Ginger und sah ihn an, tiefgründig und unbeweglich. Es war so etwas wie ein magischer Augenblick, anders kann er es nicht benennen, Ginger hatte sein Herz berührt. Und der fast vierzigjährige Carl H. Ochs fing an, mit Ginger zu reden. Er erzählte ihr von seiner Kindheit, wie er sich seinen Vater als Richter vorstellte, mit einem Schwert in der einen Hand, ja! – und einer Waage in der anderen … Und er erzählte Ginger von seinen Träumen, er wollte so unabhängig und wahrhaftig werden wie sein Vater, und von seinem Scheitern, weil ihm der Mut zur Wahrhaftigkeit fehlte, weil … ja, weil er sein Handeln nicht getrennt sehen konnte von Zweckmäßigkeit, weil er Macht wollte – und nicht wie sein Vater, der kein Kapital schlug aus seiner Macht …
Als ihm das klar wurde, weinte er, still und unauffällig. Aber er war sich sicher, Ginger hatte es mitbekommen.
Geweint hat er auch, als Susan starb … als er im Krankenhaus saß und ihre Hand hielt und sein Leben für ihres gegeben hätte, als er begriff, dass er mit ihr das Wichtigste in seinem Leben verlieren würde, da war er den Tränen nahe, aber geweint hat er erst, als ihr Blick brach … Das war jetzt … wie viele Jahre her?
Danach hat er versucht, sich abzulenken, jede Minute mit Aktivitäten auszufüllen, hat sich immer höhere Ziele gesteckt, deren Erreichen seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit beansprucht haben. Was hatte ihn angetrieben? War es nicht auch so etwas wie – er sucht nach dem richtigen Begriff – so etwas wie Selbsthass? Verzweiflung? Solche Gedanken lässt er sonst nicht zu, aber Tonys Tod hat etwas aus seinem Innern herausgelöst, etwas, das
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