Der Skandal (German Edition)
ihrem Kopf, und sie fängt an zu zittern.
Du willst doch duschen, sagt die innere Stimme, du musst doch gar nicht ins Wohnzimmer. Geh ins Badezimmer!
Aber sie kann sich nicht bewegen.
Was hat Jay erlebt? Hat er gesehen, wie Tim erschossen wurde? Sie kann nichts dagegen tun, der Film spult sich von alleine ab. Der Täter kommt durch das Fenster in der hinteren Tür in die Diele, überrascht Tim im Wohnzimmer, schießt zweimal. Jay war in seinem Zimmer, vielleicht. Jay rennt heraus und sieht den Täter … So war es, oder?
Der Killer schießt … Jay flüchtet ins Bad … Ihr Handy klingelt, und sie erschrickt.
»Christina?« Es ist ihre Mutter. »Wo bist du?«
»Zu Hause«, sagt Christina. »Ich fahr gleich in die Klinik.«
»Musst du aber nicht. Ich kann noch bleiben …«
»Ist schon gut. Ruh dich aus.«
Ihre Mutter sagt nichts.
»Mom?«
»Rita ist gekommen. Dein Vater ist bei Jay geblieben, während Rita und ich einen Sarg ausgesucht haben. Und Blumen. Rita meint, Tim hat sich nichts aus Blumen gemacht, aber man kann doch nicht ohne Blumen …« Die Stimme ihrer Mutter klingt gefasst, dennoch spricht sie nicht weiter.
»Er mochte Papageientulpen«, sagt Christina, »orangefarbene mit gelbem Rand.«
»Ja, die sind schön …«
Ihre Mutter verabschiedet sich rasch und legt auf.
»Zum Einstand«, hat Tim gesagt, nachdem er am nächsten Tag Delikatessen und Blumen eingekauft hatte. »Sind die nicht schön! Papageientulpen. Irgendwie denke ich dabei immer ans Paradies.«
Christina kämpft gegen die Tränen an. Sie muss zu Jay, und sie muss jetzt ins Badezimmer.
Die Blutspuren auf den Fliesen, Jay in der Dusche, all das hat sich in ihr Gedächtnis gegraben, und sie starrt in den Raum und macht die Tür wieder zu.
Der Pizzabote hat den Mörder gestört. Er hat Tim erschossen, nachdem der Bote geklingelt hatte, und ist durch die hintere Tür verschwunden. Ein kleiner Junge kann ihm nicht viel schaden, hat er vielleicht gedacht.
Der Pizzalieferant hat Jay wahrscheinlich das Leben gerettet.
Gerade als sie das Haus verlassen will, ruft Rita an.
Es ist mehr als ein Jahr her, dass Christina ihre Schwägerin getroffen hat. Vorletztes Weihnachten haben sie alle zusammen drüben im Haus bei Christinas Eltern gefeiert. Anzeichen für eine Trennung hat Christina da nicht ausmachen können. Abgesehen davon hat sie sich auch nie sonderlich interessiert für die Frau ihres Bruders. Christina fand sie oft zu launisch, wie eine Diva ihrem Bruder gegenüber. Christina hatte einen Monat Knochenarbeit hinter sich, Ed und Rob waren krank gewesen, sie waren hoffnungslos unterbesetzt, aber wie immer zu dieser Jahreszeit gab es mehr Raubmorde, Totschläge, Überfälle als sonst. Sie kam selten zu mehr als vier Stunden Schlaf. Vorletztes Weihnachten war sie einfach nur froh gewesen, dass sie sich um nichts kümmern musste und dass sie Jay und ihren Bruder um sich hatte. Sie hatte sogar das Getue ihrer Mutter ertragen, die wie immer perfekte Weihnachten haben wollte …
»Hi«, bringt Rita heraus, Tränen glitzern in ihren Augen. Sie ist den kurzen Weg vom Haus der Eltern herübergekommen. Christina erkennt sie kaum wegen der neuen Frisur, kurze statt halblange Haare und blond statt hellbraun.
»Tim und ich …« Rita wischt sich die Tränen ab.
Dunkle Schatten, Reste von Wimperntusche, hängen unter ihren Augen, ihre Nase ist gerötet. Nein, so aufgelöst und verzweifelt hat Christina ihre Schwägerin noch nie erlebt. Aber wie soll sie Rita trösten, wenn sie selbst so verzweifelt ist?
Sie umarmt ihre Schwägerin. »Ich muss gleich in die Klinik«, sagt sie dann. »Willst du sehen …?«
»Nur kurz. Wo ist es …« Rita spricht nicht weiter.
Christina muss nicht viel erklären, sie führt Rita zum Durchgang ins Wohnzimmer.
»Er war sofort tot, ja?«, sagt Rita leise.
»Beide Schüsse müssen tödlich gewesen sein.«
»Killer machen das so«, sagt Rita gedankenverloren. »Sie geben immer zwei Schüsse ab.«
Das weiß sie wahrscheinlich aus dem Fernsehen, sagt Christina sich.
»Jay konnte sich in Sicherheit bringen?«
»Soll das ein Vorwurf sein?« Das wollte Christina nicht sagen, aber es ist passiert.
»Nein!« Rita schüttelt den Kopf. Ihre Brillantohrringe blitzen auf. »Aber natürlich nicht!« Zögernd nähert sie sich der Couch und streicht über die Lehne. »Er hätte … zu Hause bleiben sollen.«
Christina erspart sich einen Kommentar. Stattdessen fragt sie: »Hatte Tim Feinde?«
Rita lacht auf.
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