Der Skandal (German Edition)
riecht nach Bohnerwachs, und das Parkett ist auf Hochglanz poliert. Im kleinen Vorraum steht nur ein Ledersessel, das Bild an der Wand ist ein Original, von wem, weiß Christina nicht, aber es ist Öl auf Leinwand. Sie macht die Tür zum Therapieraum auf.
Drei Ledersessel, einer mit einer höheren Rückenlehne, bilden das Zentrum des großen Zimmers, hinten links, vor der bis zur Decke reichenden Bücherwand, steht ein unauffälliger Schreibtisch, eher ein Sekretär.
Rita will gleich auf den grünen Jade-Elefanten auf dem Schreibtisch zusteuern, zieht dann aber vorher die Schuhe aus.
Stimmt, denkt Christina, den Therapieraum durfte niemand mit Straßenschuhen betreten. Aber Tim ist tot. Und Christina hat eiskalte Füße. Sie lässt die Schuhe an.
Beinahe andächtig setzt Rita sich in den Ledersessel mit der höheren Lehne.
»Er hatte hauptsächlich weibliche Klienten«, sagt sie, und Christina fragt sich, was Rita damit wohl meint.
Neben der Bücherwand stehen die Schubladenschränke. Tim hat Christina einmal gesagt, dass er in dieser Beziehung ein altmodischer Mensch ist und für seine Kartei keinen Computer benutzt. Er notiert sich die wichtigen Dinge per Hand.
Christina zieht an den Schubladen, sie öffnen sich.
Sie blättert die Reiter mit den Namen durch. Wonach sucht sie eigentlich? Sie weiß es nicht. Davon abgesehen dürfte sie aus rechtlichen Gründen die Akten gar nicht durchsehen.
»Chandler!«, sagt Rita. Sie ist aufgestanden und schaut Christina über die Schulter. »Valerie Chandler ist unsere Nachbarin! Ich wusste gar nicht, dass sie zu Tim …« Rita nimmt ihr die Akte aus der Hand.
Christina versucht sie ihr wieder abzunehmen. »Auch wenn Tim tot ist, fällt das immer noch unter die Schweigepflicht.«
Rita wendet sich ab und blättert in der Akte. »Alkohol! Hab ich’s doch gewusst!«
Christina gelingt es endlich, die Akte wieder in die Hände zu bekommen.
»Dein Elefant«, sagt sie und zeigt auf die kleine Skulptur auf dem Schreibtisch, »nicht dass du ihn noch vergisst.«
Seltsam, denkt sie, der Schreibtisch ist penibel aufgeräumt, noch nicht einmal ein Notizbuch oder ein Zeitplaner liegt darauf.
Sie sitzen gerade wieder im Auto, da sieht Christina im Rückspiegel einen Wagen an den Bordstein fahren. Nolan Brewer und ein zweiter Mann steigen aus. Sie kennt ihn nicht. Er trägt eine Lederjacke und hat einen militärischen Haarschnitt. Sie hat ihn schon einmal gesehen, aber er ist weder in ihrer Schicht noch in ihrem Team. Vielleicht ist er ja auch gar nicht bei der Mordkommission …
»Warum fährst du nicht los?«, fragt Rita. Sie dreht sich um. »Kennst du die beiden?«
Der mit der Lederjacke macht sich an der Praxistür zu schaffen.
»Mordkommission«, sagt Christina nur und fährt los. »Routine.«
»Aber warum kommen die nicht zu mir und fragen mich nach dem Schlüssel?«
»Vielleicht haben sie dich nicht erreicht.«
Rita zieht ihr Handy aus der Manteltasche. »Kein Anruf drauf.«
Sie wird der Sache nachgehen. »Ich muss jetzt in die Klinik. Soll ich dich an einem Taxistand absetzen?«
»Warum antwortest du nicht?«, sagt Rita mit vorwurfsvollem Ton. »Du bist genauso wie Tim! Weißt du, wie man sich fühlt, wenn man nie eine Antwort bekommt?«
»Rita, beruhige dich!«
»Genau das meine ich! Ist es denn so schwer, auf eine Frage zu antworten?«
Christina bremst abrupt vor der roten Ampel. Es reicht ihr. »Hör zu, Rita, du bist nicht die Einzige, die Probleme hat«, sagt sie schroff. »Und falls es dir entgangen sein sollte, mein Sohn liegt im Koma – und Tim war übrigens mein Bruder !«
Ritas Gesichtsausdruck bekommt etwas Trotziges, wie gewöhnlich sie die Lippen zusammenpresst und nach vorn aus dem Fenster starrt.
Christina ist erleichtert, als die Ampel auf Grün springt und sie Gas geben kann.
»Wir hätten Kinder haben sollen«, sagt Rita plötzlich. »Dann hätte er sich mehr mit ihnen beschäftigen müssen anstatt mit den Problemen fremder Leute.«
Christina sieht kurz zu ihrer Schwägerin hinüber. Rita hält den grünen Elefanten mit beiden Händen fest, als wäre er alles, was ihr von Tim geblieben ist.
»Deine Eltern haben mir angeboten, bei ihnen zu bleiben, aber ich fahre heim«, sagt Rita auf einmal. »Ich muss jetzt allein sein.« Liebevoll streichelt sie über den grünen Elefanten.
Draußen fallen weiße Schneeflocken aus einem weißen Himmel.
Gouverneur Carl H. Ochs hat einen kurzen Umweg über die Interstate 43 genommen und biegt dann auf
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