Der Skandal (German Edition)
die 32 ab, die Straße, die am Ufer des Lake Michigan entlangführt. Er genießt es, selbst zu fahren.
Der alte Teil von Milwaukee erstreckt sich nördlich des heutigen Stadtzentrums, am Seeufer entlang. Dort, rechts und links der 32, erheben sich die alten herrschaftlichen Häuser wohlhabender Einwohner. Im Sommer breiten sich tiefgrüne Rasenflächen aus, jetzt sind sie von blütenweißem Schnee bedeckt, der in der Sonne blitzt. Mächtige Ahornbäume und Pinien wachsen in den Himmel, dichte Hecken umsäumen die Grundstücke. Hier fühlt er sich heimisch. Und nicht nur, weil er hier aufgewachsen ist. Es ist eher so etwas wie eine Seelenlandschaft. Alles hat seine Ordnung, alles ist an seinem Platz. Hier oben die Stützen der Gesellschaft, weiter unten, auch noch in hübschen gepflegten Häusern, die Angestellten, und dann, noch weiter unten und jenseits der Interstate 43, die anderen. Die, die Probleme machen. Die, für die all die anderen zahlen müssen.
Ochs fährt noch langsamer. Dreißig Meilen, ein Witz für seinen Mercedes. Aber er ist schon zu oft in die Radarfalle gerast, und jedes Mal musste sein Bruder Frank die Sache bei der Polizei regeln. Bis zu den Wahlen sind es nur noch sechs Monate, und er hat eine Menge Feinde, die nur darauf warten, dass er einen Fehler macht. Obwohl er gerade gestern wieder in so vielen Vorgärten Schilder mit seinem Namen gesehen hat. I Stay with Gouverneur Carl H. Ochs . Auch hier sieht er einige.
Er wirft einen Blick auf die Uhr. Seine Mutter besteht auf absoluter Pünktlichkeit. Zehn Minuten hat er noch. Er biegt ab zum See hinunter. Dort unten, am Sandstrand, haben er und sein Bruder als Kinder gespielt. Die Straße schlängelt sich zwischen stattlichen Seegrundstücken entlang. Es tut ihm gut, dass er auch hier ein paar Schilder mit seinem Namen entdeckt.
In den vergangenen Monaten hat er mit einigen Problemen fertigwerden müssen, die ihm nicht gerade Sympathie eingebracht haben. Da waren die finanziellen Einschnitte im öffentlichen Bereich, die Kämpfe mit den Gewerkschaften, allen voran mit den Lehrern – und da war diese ewige Diskussion um die Wiedereröffnung einiger Erzminen in Wisconsin. Er hat schließlich gewonnen, sogar den Naturschützern, die immer gegen alles sind, sind erst einmal die Argumente ausgegangen. Selbst das Großmaul Brad Whitner hat den Schwanz eingezogen. Ochs lächelt in sich hinein. Amerikanisches Neodym hat er versprochen, da hat Whitner mit dem Stars-and-Stripes-Anstecker am karierten Hemdkragen nichts mehr einwenden können.
Hier fährt er gern langsam. Hier kann er den Blick über den See genießen, der jetzt eine weiße Eisfläche ist, die sich bis zum Horizont auszudehnen scheint. Trotz Sonnenbrille muss er gegen die gleißende Helligkeit blinzeln. Ein schöner Tag. Der Besuch bei Mom passt ihm heute gar nicht. Aber es ist schließlich seine Mutter.
Nächsten Monat wird sie vierundachtzig.
Geräuschlos gleitet sein klimatisierter Wagen dahin. Plötzlich werden seine Gedanken vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Es ist Kirsten. Sie will wissen, ob sie sich heute noch sehen.
»Du weißt doch, dass ich heute zu meiner Mutter fahre.«
Er stellt sie sich in dem champagnerfarbenen Unterkleid vor, das sie gestern Nacht getragen hat. Sie liegt auf dem Bett – nein, sie steht am Fenster mit dem Telefon in der einen Hand, die andere hat sie in die Hüfte gelegt. Ihre Haut duftet. Er findet sie noch genauso aufregend wie vor drei Jahren, als sie angefangen haben sich zu treffen.
»Dann warte ich nicht auf dich«, sagt sie. Es klingt nicht gekränkt, eher sachlich. Dafür schätzt er sie, und dafür schätzt er auch ihr Verhältnis.
»Wir sehen uns bald«, versichert er.
»Und was mache ich heute?«
Er muss lachen. Kirsten ist Anwältin, sie kann sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen.
»Sag deiner Mutter einen schönen Gruß von mir!«
Er muss wieder lachen.
Wenn seine Mutter von seinem Verhältnis mit Kirsten wüsste, würde sie ihm die Bibel vor die Nase halten und ihn bestimmte Stellen vorlesen lassen.
»Du kleiner Teufel!«, sagt er.
Ihr kehliges Lachen jagt ihm wie immer einen Schauer über den ganzen Körper.
Als sie auflegt, fühlt er sich einen Augenblick lang allein. Als würde er ins Nichts fallen. Dann klingelt sein Handy ein zweites Mal. Diesmal ist es seine Mutter, sie will wissen, ob er pünktlich sein wird.
Gouverneur Carl H. Ochs weiß, er hat Ausstrahlung. So viel Ausstrahlung, dass Hunderte ihm
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