Der Skandal (German Edition)
»Natürlich hatte er Feinde! Was glaubst du, wie viele Frauen sich von ihren gewalttätigen Männern getrennt haben, nachdem sie bei ihm in Therapie waren?« Sie starrt auf den Blutfleck. »Er hat manchmal anonyme Anrufe bekommen. Und in der letzten Zeit ist er nach den Fernsehauftritten immer durch den Hinterausgang direkt zu einem Wagen gebracht worden.«
Davon hat er Christina nichts gesagt.
»Hast du das nicht gewusst?«, fragt Rita.
»Nein.«
»Das sieht ihm ähnlich! Nur die anderen, die müssen immer alles sagen!« Rita schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich wollte nicht, dass er auszieht. Ich wusste, wenn er auszieht, ist alles verloren.«
»Wie meinst du das?« Christina geht in die Küche.
Rita folgt ihr und setzt sich auf einen Stuhl. »Wenn er ins Hotel gezogen wäre …« Sie holt eine Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche, sieht sich vergeblich nach einem Aschenbecher um und steckt die Schachtel wieder zurück. »Ich habe keine Geschwister«, sagt Rita unvermittelt. »Mein Vater ist gestorben, als ich fünf war. Meine Mutter hat wieder geheiratet, ich war ihr immer egal. Tim war … alles, was ich hatte. Aber ich hatte ihn nie ganz allein für mich.«
Wenn Rita nicht ihren Mann verloren hätte, würde Christina jetzt etwas ganz anderes sagen als »Niemand kann einen Menschen besitzen«.
»Ja, ja, so steht es in diesen Psychoratgebern.« Rita zupft sich an den Haaren. »Tim hatte auch immer solche Ratschläge parat. Wirklich, Christina, das muss ich mir jetzt nicht anhören!« Sie springt auf. »Du musst ja in die Klinik. Entschuldige. Margret sagt, Jay hat einen Schuss in die Lunge abbekommen.«
Christina nickt.
»Es tut mir sehr leid.« Rita blickt zu Boden. »Ich wollte auch immer ein Kind.« Sie geht in die Diele und hat den Türgriff in der Hand, da dreht sie sich noch einmal um. »Es lag an Tim, wir haben uns untersuchen lassen.«
Christina weiß nicht, was sie erwidern soll. Was will Rita damit sagen? Dass die Trennung Tims Schuld war? Dass Tim nicht der war, für den seine Familie und die Welt ihn gehalten haben: der erfolgreiche, strahlende Psychiater mit der großen Fangemeinde?
»Warte«, sagt Christina. »Wurden diese anonymen Anrufe weiterverfolgt? Hat Tim die Polizei verständigt?«
»Nein«, sagt Rita knapp. »Das hat er nicht für nötig gehalten.«
Typisch, denkt Christina.
Eigentlich will sie so schnell wie möglich in die Klinik zu Jay, doch jetzt ist sie zusammen mit Rita auf dem Weg in Tims Praxis.
»Ich kann den Schlüssel nicht finden«, hat Rita gesagt, bevor sie zurückgehen wollte. »Es gibt in der Praxis einen kleinen Elefanten aus Jade, den haben wir uns auf der Hochzeitsreise in Indien gekauft. Tim hat gesagt, der Elefant ist unser gemeinsamer Glücksbringer. Eines Tages hat er ihn einfach mit in die Praxis genommen. Vielleicht war das ein Zeichen, dass es mit unserem Glück zu Ende war. Und ich hab’s nur nicht gemerkt, ich hab gedacht, er macht gerade eine schwere Zeit durch bei seiner Arbeit … Ich will ihn wiederhaben. Als Erinnerung an Tim – und an die guten Zeiten.«
Unterwegs zur Praxis in der North Water Street, überlegt Christina, dass sie bei der Gelegenheit die Patientenakten durchsehen kann, und sie hofft, das Brewer die Akten nicht schon beschlagnahmt hat.
»Ich war seit Jahren nicht mehr hier«, sagt Rita, nachdem Christina vor dem modernen vierstöckigen Gebäude aus Glas und Stahl angehalten hat. »Ich wollte irgendwann nichts mehr wissen über seine Arbeit. Namen durfte er ja sowieso nicht nennen, aber … ich konnte es irgendwann nicht mehr ertragen, dass er all diesen fremden Menschen zuhören konnte und Verständnis für sie aufbrachte – und dass ich immer unwichtiger wurde.«
Sie zieht ihre Handschuhe von den Fingern. »Und durch die Fernsehsendung kam noch ein Haufen Fans hinzu. Am Anfang hat er mir ihre E-Mails vorgelesen. Sie haben mir zu einem neuen Leben verholfen! Ohne Sie wäre ich nicht mehr am Leben! … oder so ähnlich.« Sie presst die Handschuhe in einer Hand zusammen. »All die Fremden konnte er retten«, sagt sie bitter.
Noch mehr Mitgefühl für Rita kann Christina nicht aufbringen, also sagt sie: »Vielleicht hast du ihm nie eine Chance gegeben. Vielleicht hast du immer so getan, als würde es dir gut gehen.«
»Warum hätte ich das wohl tun sollen?«, gibt Rita schroff zurück.
»Vielleicht wolltest du keine Schwäche zugeben.« Christina macht die Tür auf und steigt aus.
Es
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